Demokratie oder Postdemokratie?

Die Bücher „Schattenmächte“ und „Staat 1 – 4“ über Rimini Protokoll erkunden Machtstrukturen

By DIMO RIESS

22.03.2018 / https://www.pressreader.com/germany/leipziger-volkszeitung/20180322/282046212636337

Mit dem Buch „Post-democracy“ist der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch 2004 bekannt und in der Folge zum Stichwortgeber für das diffuse Unbehagen geworden, das in den westlichen Demokratien Raum gewinnt. Der Glaube, mit dem Kreuzchen am Wahltag etwas ändern zu können, schwindet. Besonders in den unteren Schichten: „Die Armen wählen nicht.“Auf diese Formel bringt es überspitzt aber in der Tendenz empirisch belegt Fritz R. Glunk in seiner Analyse „Schattenmächte. Wie transnationale Netzwerke die Regeln unserer Welt bestimmen“. Es ist eines von zwei Buchneuheiten, die mit unterschiedlichen Ansätzen den Zustand der
(Post-)demokratie reflektieren. Neben Glunks gut lesbarem, leicht polemisch aufgeladenem Sachbuch „Schattenmächte“ ist das „Staat 1 – 4. Phänomene der Postdemokratie“– eine aufwendig gestaltete Dokumentation von vier Inszenierungen von Rimini Protokoll.

Rimini Protokoll, vielfach ausgezeichnet, gehören zu den bekanntesten Gruppen des postdramatischen Theaters, die den Blick auf die Wirklichkeit mit ungewöhnlichen Performances und überraschenden Perspektiven immer wieder neu schärfen. Initiiert vom Haus der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin und mit wechselnden Theatern als Kooperationspartner haben Rimini Protokoll die Welt der Geheimdienste („Top Secret International“), das „Gesellschaftsmodell Großbaustelle“, Algorithmen als politische Entscheider („Träumende Kollektive. Tastende Schafe“) und die Verschränkung von politischen und wirtschaftlichen Kräften („Weltzustand Davos“) untersucht. Implizit läuft die Frage mit, inwieweit demokratische Legitimation, Steuerung und Kontrolle jeweils gegeben sind.

„Top Secret International“ ist bis Sonntag noch in Berlin im HKW zu erleben, „Gesellschaftsmodell Großbaustelle“ läuft am 17. und 18. Juni am Staatsschauspiel Dresden, gefolgt von „Weltzustand Davos“. Das Buch dazu bietet mehr als eine ästhetisch ansprechende Dokumentation der Inszenierungen. Durch Einblicke in den Rechercheprozess und Essays von Experten fächert es seine Themen kaleidoskopartig auf. Es entsteht ein Reflexionsraum, der Möglichkeiten und Risiken zusammendenkt.

Big Data als Thema von „Träumende Kollektive. Tastende Schafe“ liegt im Kontext von „Post-demokratie“ auf der Hand. Das Thema „Großbaustelle“ überrascht hingegen, entpuppt sich aber als gelungener Indikator für Demokratiedefizite. Stadtsoziologe Dieter Läpple sieht jeden Großbau zugleich als Politikum, der nicht „losgelöst von der politischen Verfasstheit und den Herrschaftsformen (...) verstanden werden“ kann. Stararchitekten schwärmen von den Arbeitsbedingungen in autoritären Staaten. Aber auch westliche Städte lassen sich auf immer mehr Großprojekte ein. Läpples Essay warnt: „Ist die Großbaustelle in Gang gekommen, gibt es kaum mehr Möglichkeiten demokratisch legitimierter Einflussnahme.“Bau- und Entscheidungsprozesse haben sich in verselbstständigte Funktionsbereiche ausdifferenziert.

„Weltzustand Davos“ nimmt das informelle Treffen einer Weltelite unter die Lupe und gehört inhaltlich damit zum Spielfeld, das Glunk in „Schattenmächte“ untersucht. Ein Buch, das aufzeigt, wie demokratisch legitimierte Institutionen des Nationalstaates an Grenzen stoßen. Erstens wörtlich, weil die globale Wirtschaft grenzüberschreitende Regeln benötigt. Zweitens, weil staatliche Expertise vor dem Komplexitätsgrad wirtschaftlicher Teilbereich kapituliert.

„Viele Wege führen am Parlament vorbei“, lautet Glunks düsterer Eingangssatz, um anschließend kompakt zu beschreiben, wie und weshalb die Wirtschaft global auf „ungestörte Selbstregulierung“ setzt. Entwickelt habe sich ein undurchschaubares und unkontrollierbares Geflecht aus „Bodies“, „Foren“ und „Konferenzen“. Glunk: „Niemand kennt all diese seltsamen Regulierungsorgane, auch nicht die EU, wie sie auf Anfrage offen zugibt.“

Das Buch vermeidet den Eindruck, Selbstregulierung sei per se negativ. Es warnt aber vor den Folgen, wenn sie sich jeglicher Kontrolle entzieht. Und kritisiert, auch das eine Tendenz, dass allein das effziente Ergebnis der Aushandlungsprozesse als Legitimationsgrund dient.

Dabei, mit dieser These räumt Glunk auf, kann nicht von einem Rückzug des Staates die Rede sein. Die Exekutive mischt von der G20 bis zu kleinen Standardisierungsforen in der Regel mit. Aber nationale Parlamente verkommen zum Abnickgremium dessen, was anderweitig ausgehandelt wurde. Glunk spricht vom „potenziell störenden Einfluss des Parlaments“, von einer Symbiose privater Normgeber und staatlicher Behörden: „Erstere lassen sich ihre möglichst weiten Freiräume bestätigen, Letztere profitieren von der Wirtschaftsleistung in ihrem Bereich.“

Glunk setzt vor allem auf Fallbeispiele wie den Basler Ausschuss für Bankenaufsicht, weniger auf demokratietheoretische Exkurse. Das erleichtert den Zugang. Und er arbeitet im Abkürzungsdschungel der transnationalen Foren die bedrohlichen Muster der undemokratischen Regelsetzung heraus. Jürgen Habermas’ 1999 formulierte Hoffnung, transnationale Regime könnten entstehen, ohne dass „die Kette der demokratischen Legitimation“ abreiße, hat sich nicht erfüllt. Das zeigt „Schattenmächte“ deutlich.