Das Gesetz des Marktes

Szenische Expeditionen - Markt der Märkte

By Andreas Wilink

04.10.2003 / Neue Züricher Zeitung

Saisonstart und Intendantenwechsel an Rhein und Ruhr

Wenn schon alles schwerer wird und die Kunst nach Brot gehen muss, soll es wenigstens optisch leichter werden. Das massive Rotschwarz, das das Theater Oberhausen ein Jahrzehnt in seinen Farben trug und damit an Feuer und Erde, Stahl und Kohle erinnerte, wich im grafischen Erscheinungsbild der Neuintendanz einer schlanken Schrift. In ihr steht das O von Oberhausen wie ein zum Staunen geformter Rundmund isoliert. Johannes Lepper buchstabiert mit der Eröffnung, dem «Ödipus» des Sophokles, das A und O seines physisch exzessiven Theaters.

Szenische Expeditionen

In Bonn hingegen, wo Klaus Weise - Oberhausens Intendant von 1992 bis 2003 - zum «General» eines Dreispartenhauses aufstieg, hat sich das plakative Gelb im Logo seines Vorgängers Manfred Beilharz zu klarem Schwarzgrün verwandelt, das durch drei in Klammern gesetzte Striche um Aufmerksamkeit wirbt. PR-Nüchternheit oder Ernüchterung? Weise hatte sich in Oberhausen weit vorgewagt, das Theater geöffnet und das Revier bis Essen, Bottrop und Duisburg ausgeschritten. Szenische Expeditionen etwa führten ins Gasometer und ins Klärwerk, in die Kokerei, auf die Halde und zu anderen Industriebrachen. Man hat nicht nur, aber auch Milieumentalität gepflegt und konnte dabei auf ein neugieriges, robustes Publikum vertrauen. 80 Prozent Auslastung gaben Weise Recht sowie eine Kritikerumfrage, die sein Haus fünfmal zum besten Theater im Rheinland kürte. Und das bei zehn konkurrierenden Sprechbühnen im Rhein-Ruhr-Raum, in dem derzeit nur Bochum und das vom Land NRW mitgetragene Düsseldorfer Schauspielhaus sich überregional profilieren. Sehr unterschiedliche soziale Biotope haben eines gemeinsam: dass städtische Selbstbezogenheit und Repräsentationswillen urbane Weltläufigkeit und den Blick über sich selbst hinaus behindern.

Der Wechsel vom Theater unter Tage in die idyllische rheinische Ebene fördert bei Weise zunächst kein künstlerisches Gold. Sollte ihn bürgerliche Bonner Bedachtsamkeit lähmen? Weises unverbindlich risikoloser «Tartuffe» ist Abonnentenpflege. Molières Komödie der Entlarvung enthüllt sich, ohne Bezug zur Gegenwart, als dekorativ-artifizielle Kostümorgie, entnommen dem «Journal des Luxus und der Moden». Antiquiert und zeitverloren wie die betonierte Fussgängerzone im Umkreis des Spielortes, der Bad Godesberger Kammerspiele. Identitätslos wie die frühere Bundeshauptstadt, die sich nach der Zentralverschiebung des Machtapparates als Ancien Régime fühlt. Bonn scheint saturiert gegenüber dem strukturschwachen, aber problemwachen, charakterfesten Ruhrgebiet. Zwar hat der 51-jährige Weise die Kürzung des Etats (etwa 12 Millionen Euro und über 100 Mitarbeiter verlor das Haus) akzeptiert, dafür aber die Festschreibung seines Jahresbudgets von 27 Millionen Euro für fünf Jahre erreicht. Lepper in Oberhausen muss mit 9 Millionen Euro haushalten. So sind die Marktgesetze.

Deutsche Misere

Sie auch werden in «Markt der Märkte», einem Aussenprojekt auf dem Bonner Wochenmarkt zwischen Obst- und Gemüseständen, spielerisch kommentiert. Helgard Haug und Daniel Wetzel (Rimini Protokoll), die beim Festival Theater der Welt 2002 die Raubkopie einer Bundestagssitzung im verlassenen Plenarsaal mit Laien simultan nachstellten, wechseln hier nur den Schauplatz, nicht ihr Thema. Denn Parlament wie Markt sind Kommunikations-Schnittstellen diverser Interessen. Von der Balkonloge eines Kinos aus beobachten die Zuschauer - Voyeure des Alltags - den Marktbetrieb zu ihren Füssen, wobei ihnen der Ton per Kopfhörer zugeschaltet wird. Die Reality-Bühne könnte einen Mikrokosmos der deutschen Misere darstellen. In der Stadt, in der das Wirtschaftswunder erfunden wurde, hat Ökonomie ihren speziellen Wert. «Geld ist das dreckigste auf dem ganzen Markt», sagt ein Händler ins Mikrofon. Andere Akteure nutzen das Pflaster als speaker's corner. Einmal wird der Spruch zitiert, der die Frankfurter Börse ziert: «Am Markt und Handel erkennt man den Wandel.» Womöglich ist es die Einfachheit der Regeln, die den Markt als symbolischen Ort attraktiv machen. Retour à la nature. Die künstlerisch wohlfeile «Marktanalyse» leistet allerdings kaum einen sozialen Allgemeinbefund. Spiegelt nicht die Verteilungskämpfe, die etwa die Theater angesichts drastischer Sparbeschlüsse austragen. Erst die langsame Entleerung bei Marktschluss samt Abbau der Buden und Abfallbeseitigung lässt das gegenwärtig Trostlose spüren.

Wo Weise in Bonn eine freundliche Übernahme vornimmt, mutet Johannes Lepper mit «Ödipus» Oberhausen etwas zu. Schroff, rüde, ungestüm tritt der 42-Jährige an, als ginge es in die Entscheidungsschlacht, als wolle er in einem Streich das Terrain erobern. Also reisst er die mit Tribünen und kubischen Elementen antikisch gebaute Bühne in der Tiefe und mit einem Steg ins Parkett auf, schafft ein lastendes und zugleich auszehrendes Klima. Eine Kunstanstrengung - ernsthaft, unerbittlich, fatalistisch -, die sich aber in ihrem Willen zur grossen Geste selbst behindert, verkleinert und verkrampft - wie das Ensemble in seiner gestanzten Rhetorik. Mit Ausnahme des jungen, kühnen, zu Energie und dahinschiessender Kraft begabten Sebastian Nakajew als Vatermörder, Muttergatte und Sphinx- Enträtsler.

Surreale Teestunde

Viele Fragen müsste sich auch Lewis Carrolls «Alice» stellen. Doch nimmt sie die Schreckenswunder des Erwachsenwerdens einfach staunend an. Frei assoziierend erzählt Lepper - im nun bunt gefärbten «Ödipus»-Bühnenbild von Martin Kukulies - Alices Initiationsreise. Kein naiv märchenhafter Taumel in den Traum, sondern dessen aufgeklärte Nachstellung, nicht kindliche Phantasie, sondern reflektierte Formsprache und Zerstörung von Unmittelbarkeit. Die surreale Teestunde mit drei barocken Fairy-Queens in der Alice-Rolle und amerikanischen Musical-Guys verweigert sich dem Revue-Spass mehr, als dass sie ihm nachgibt. Ein Oberhausener Manifest.

Köln, ältere Rheintochter und grosse Schwester Bonns, ringt mit dem Kulturtod. Das schwarze Loch frisst sich durch alle Organe, besonders die der Städtischen Bühnen. Spielstätten sind gefährdet, darunter die Schlosserei, experimentelle Plattform des Schauspielhauses. So ist es programmatisch zu verstehen, wenn dort die erste Premiere stattfindet: Goethes «Tasso» - Drama über Kunst, Leben und Macht. Nachdem die erste Saison des Intendanten Marc Günther ein Debakel gewesen war, hat man sich von Bochum den Regisseur Niklaus Helbling «ausgeliehen», der an Matthias Hartmanns Haus unter anderem zwei Stücke von Sibylle Berg gewitzt, gescheit, garstig und grell uraufgeführt hat. Hätte er nur den verquälten Dichter der Renaissance am Hof zu Ferrara ähnlich keck behandelt! Tonio Arango als Tasso darf nicht, wie er könnte und bei Helbling mehrfach zeigte: ein ungezogener, schlaksiger Lenny Bruce der Kellerbühne sein. Als Tasso hat er mehr Mass als Fieber und deklamiert, was der Lorbeer hält. Wenn er zitathaft Posen einnimmt, Mätzchen macht und ironisch aus der Rolle fällt, illustriert er das Drama des begabten Kindes, das er «noch als Mann zu spielen hat», damit die feudale Clique ihn hätschelt. Allesamt sind Spielernaturen. Helblings in der Konsequenz und Analyse dürftiger, drapierter Klassiker bleibt Stoffverschwendung. Köln ist kaum zu helfen. Bonn muss sich erst noch finden. Oberhausen bleibt Reviersieger.

 


 


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