Berlin bläst zum Lauschangriff

Im Angesicht der Überwachungskamera: Bei dem Freiluft-Hörspiel "50 Aktenkilometer" in Berlin können sich Hörer die Stasi-Geschichte erwandern - und nebenbei erleben, wie eine Stasi 2.0 im Zeitalter von Google-Streetview und GPS funktionieren könnte.

By Lars-Olav Beier

17.05.2011 / SPIEGEL ONLINE

 Wenn er die Familienministerin Schröder abhören wolle, müsste er nur einen Fotoapparat auf die Scheibe des Raumes richten, in dem sie sich befindet, sagt Detlev Vreisleben. Nicht irgendeinen Fotoapparat, sondern einen speziellen, mit dem man über einen Laserstrahl die Vibrationen des Glases ermitteln kann, die eine im Raum stattfindende Unterhaltung auslöst. So könne man die gesprochenen Sätze rekonstruieren. Die Physik, sagt Vreisleben, sei in Ost und West gleich, und sie kenne nun mal keine Moral.
Der aus West-Deutschland stammende Ingenieur der Sicherheitstechnik steht vor dem Gebäude des Familienministeriums in der Glinkastraße in Berlin-Mitte, während er dies erzählt. Die Stasi, führt er aus, habe bereits in den achtziger Jahren mit Laserstrahlen experimentiert, um in Gebäude hineinzulauschen, allerdings ohne Erfolg. Heute hingegen sei die Technik ausgereift, sagt er und redet darüber so selbstverständlich wie ein Fensterputzer über seine Tricks, die Scheiben zu säubern.


Die Zeitzeugen rufen an

Vreisleben ist eine von rund 100 Personen, die in dem Hörspiel "50 Aktenkilometer" zu Wort kommen. Ihre Stimmen sprechen den Hörer jäh an, während er durch die Straßen von Berlin geht, sie kommen nicht aus dem Radio, sondern aus dem Handy. Zusammen mit Deutschlandradio Kultur und dem Hebbel- Theater am Ufer bespielt die Künstlergruppe Rimini Protokoll von Dienstag bis zum 13. Juni ein rund zweieinhalb Quadratkilometer großes Areal in Berlins Mitte mit einem "begehbaren Stasi-Hörspiel".
Jeder Hörer wird von den Veranstaltern mit einem GPS-Handy ausgestattet, das ihm automatisch eine "akustische Blase" zuspielt, sobald er einen bestimmten Punkt im Areal erreicht. Rund 120 solcher Blasen können zwischen der Behörde für Stasi-Unterlagen nördlich des Alexanderplatzes und dem Brandenburger Tor angesteuert werden. Der Weg ist nicht vorgeschrieben, jeder Teilnehmer kann sich auf Schritt und Tritt sein eigenes Hörspiel zusammenstellen.
Stasi-Opfer lesen aus ihren Akten vor, informelle Mitarbeiter der Stasi erzählen, wie sie vom Ministerium für Staatssicherheit angeheuert wurden, Besucher aus dem Westen berichten, wie sie verhaftet und von der Stasi verhört wurden - etwa eine West-Berlinerin, die am 1. Mai 1989 auf der Ostseite des Brandenburger Tors einen Teppich ausbreitete, mit der Aufschrift "Fliegender Teppich" versah und ein flammendes Plädoyer für die Reise- und die Gedankenfreiheit hielt.


Verhaftet mit Bettvorleger


Der Hörer lauscht ihren Erzählungen, während er nahe dem Brandenburger Tor steht, mitten im Trubel der Touristen, deren fröhliches Gekreische immer wieder in die Hörblase eindringt und sich mischt mit der Beschreibung der Vorgänge vom Mai 1989. Plötzlich ändert sich der Ton, es schrabbelt im Ohrhörer. Eine Männerstimme vermeldet, eine West-Berlinerin, Jahrgang 1960, wohnhaft in der Mainzer Straße 39, sei von einem "VP" verhaftet worden, mit einem "Bettvorleger".

Der "VP" war ein Volkspolizist, und der Mann, der davon berichtete, ein Mitarbeiter des MfS, der die Teppich-Demo der Zentrale meldete. Dieses Tondokument von 1989 zeigt, wie groß die Paranoia und Überwachungswut der Stasi war: Sie ließ sogar die Gespräche der eigenen Leute mitschneiden. In Momenten wie diesen verdichtet sich das Hörspiel "50 Aktenkilometer" zum kafkaesken Gesellschaftsporträt. Und während der Hörer noch amüsiert den beflissenen Beamten lauscht, bekommt er plötzlich eine SMS: "Ich sehe dich."


Die Spur der Soundblasen

Die Nachricht wurde abgesandt in der "Überwachungszentrale" des Hörspiel-Projektes am Alexanderplatz. Hier werden die digitalen Spuren der lauschenden Spaziergänger verfolgt, aufgezeichnet - und jedem Teilnehmer am Ende als Ausdruck zur Verfügung gestellt. Hier kann man aber auch die Wege der Anderen verfolgen, in Echtzeit, und ihnen Mitteilungen auf ihr Handy schicken. Man beginnt zu ahnen, wie im Zeitalter von GPS und Google-Streetview eine Stasi 2.0 aussehen könnte.
"50 Aktenkilometer" ist keineswegs nur packend rekonstruierte Geschichte. Immer wieder hat der Zuschauer das Gefühl, in einer Zeitschleife zu stecken, in der Vergangenheit und Gegenwart ständig ineinander übergehen. Wer etwa um die Stasi-Unterlagen-Behörde herumgeht, dabei die Schilderungen eines Opfers hört und sich plötzlich in der Weydinger Straße im Auge einer Überwachungskamera wiederfindet - der spürt in diesem Moment, wie kalt ein Blick sein kann.

URL:http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,762804,00.html
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