„Aber das überlegen wir uns nochmal.“

Die Inszenierung Karl Marx: Das Kapital, Erster Band von Rimini Protokoll

By Helgard Haug und Daniel Wetzel im Gespräch mit Henning Fülle

07.07.2008 / Marx-Engels-Jahrbuch 2007. S. 119–131

Ende 2005 stand der Titel: „Karl Marx: Das Kapital, Erster Band“. Ein Theaterabend, zu erarbeiten für mehrere deutschsprachige Schauspielhäuser und das Berliner Hebbel am Ufer (HAU). Ende 2006 saßen wir mit einem bunten Haufen Menschen, die keine Schauspieler waren und dennoch Protagonisten dieses Theaterabends sein sollten, vor einer Schrankwand, 12 Meter breit und vier Meter hoch, zusammengeschraubt aus Stahl, Türen und Möbelresten, im vierten Stock des Düsseldorfer Schauspielhauses, darin – neben vielen privaten Büchern und Objekten – ein Auszug aus Christian Sprembergs Plattensammlung und 300 Exemplare des ersten Bands. Wir konnten unten auf der Bühne proben, fünf Tage später war Premiere, aber die Schrankwand war zu schwer für den Aufzug hinunter. An diesem Tag sagte Thomas Kuczynski endlich, was während eines Jahres keiner so gesagt hatte: Die Idee, Das Kapital inszenieren zu wollen, ist total verrückt. Verrücktes ist ja auch für Kuczynski nicht gleich ein Ärgernis, im Gegenteil. Aber wenigstens für diesen Moment war Kuczynski sehr, sehr ärgerlich. Dennoch: viel schwerer als die Misere, dass wir zum ewigen Verbleib auf der Probebühne verdammt schienen, wog, dass wenige Tage vor der Premiere und nach einigen Wochen gemeinsam verbrachter Zeit schmerzlich spürbar geworden war, dass auch der Text zu groß und schwer war, als dass wir ihn als Text hinunter bekämen auf die Schauspielhausbühne. Es war nun endgültig, dass dieser Text seine Rolle spielen würde, wie alle anderen Anwesenden auch, bei einem Theaterabend, dem er aber den Titel gab. Für diesen Moment stockte alles: Stagnation, Zorn und Abschied von Hoffnungen. Dann kam das Theater wieder zu Kräften. Kuczynski sollte bei jeder Aufführung zornig sein, für einen Moment inmitten des Abends, nachdem das Regalmonstrum wie von Geisterhand in zwei Hälften zerbricht, aus dem Spalt und einer großen Nebelwolke steigen und stinksauer erneuern, was er eben gesagt hatte: Karl Marx’ Das Kapital auf die Bühne zu bringen, ist eine total verrückte Idee. Das tat er dann auch. Nur kann er nicht jedesmal öffentlich verärgert sein, und er wirkt auch auf der Bühne stets, als sei er auch sonst nicht bereit, sich über das Maß hinaus, das man auch Einstellung nennen könnte, zu verstellen.
Anfang März 2008 sitzen wir mit dem Dramaturgen Henning Fülle zusammen und schlagen das Buch noch mal ganz vorne auf. Es ist überschrieben, vermalt, voller Anmerkungen – es ist unser Arbeitsbuch, nicht Das Kapital:

 

v.l.n.r.: Thomas Kuczynski, Ralf Warnholz, Jochen Noth, Franziska Zwerg, Christian Spremberg

Henning Fülle: Die erste Frage ist natürlich, wie ihr auf den Stoff, auf das Thema, auf DAS BUCH gekommen seid. Die Antwort darauf scheint mir hinter dem, was ich dann gesehen habe, verschwunden zu sein, das transparente Motiv sozusagen.

Haug / Wetzel:
Es gibt viele Gründe dafür – aber ein früher Moment war, als wir mal auf einem Spielplatz saßen. Da sind Besitz und Teilen, Eigentum und eine Ökonomie des Teilens große Themen, weil die Verteilung der Spielzeuge ungleich ist und die Spielzeuge der anderen meist interessanter sind. Man schaut quasi zu beim Entstehen der Grundzüge des ökonomischen Denkens: es gibt ein Nehmen und ein Geben, Tausch, Angebote, aber auch Aneignungen, es gibt einen Kurswert. In völliger Unkenntnis der Literatur haben wir uns dann für das Abenteuer entschieden und stellten uns vor, wie es wäre, vor der Kulisse eines Kinderspielplatzes Das Kapital öffentlich zu lesen oder Blätter zu machen mit Zitaten und sie an die Eltern auszuteilen. Auch die Frechheit, dieses Buch zu ,inszenieren‘, hat uns gereizt. Und ganz einfach die Vorstellung, dass im Spielplan deutscher Schauspielhäuser neben ,Faust‘, ,Der Sturm‘ und ,Gott des Gemetzels‘ ,Karl Marx: Das Kapital, Erster Band‘ stehen würde ...
Ein weiterer Reiz war, dass wir es beide nicht gelesen haben. Sodass der Arbeitsprozess selbst als Prozess des Lesens gesehen werden musste. Da stand die Frage im Vordergrund, wer den Text denn überhaupt kennt, wer ihn auf welche Art und unter welchen Vorzeichen gelesen hat, wer ihn jetzt liest und aufsucht. Und was diese Leute sagen, wohin sie mit der Lektüre gekommen sind. Für uns als Theaterleute ist außerdem immer die Frage wichtig, was Text auf der Bühne bzw. von der Bühne herab überhaupt leisten kann und was Formen sind, in denen er stattfinden kann. Dazu wollten wir fragen gehen und zuschauen.

Henning Fülle: Das ist eines eurer Arbeitsprinzipien! Die ergebnisoffene Recherche, die zu einer Art Logbuch führt, welches dann wieder zum Material für euer Stück wird.

Haug / Wetzel: So gehen wir z. B. auch Formel-1-Rennen anschauen und wenden also das journalistische Prinzip auch auf den Text an. Es ist nicht so, dass wir uns ein Jahr lang zurückziehen, uns durch das Buch ackern und hinterher den Clou haben, was wir damit auf der Bühne machen können. Wir brauchen das Gespräch, die Auseinandersetzung mit Menschen und ihren Biographien. Sie haben – auch ohne es immer gleich zu merken – einen enormen Anteil an den Ideen, mit denen wir von der Autoren- und Regie-Seite das Stück bauen, in dem sie sich wiederfinden. Wir wollten uns auch für die Gespräche unsere Naivität dem Text gegenüber bewahren, auch wenn das bisweilen ziemlich unangenehm war und wir eben zunächst nicht aus dem Text heraus kontern konnten. Andererseits hat diese Strategie auch Leute zum Stück geführt, die, hätten wir das Buch vorher gelesen, nicht ins Projekt gefunden hätten.

Henning Fülle:
Wie habt ihr die gefunden?

Haug / Wetzel:
Der erste, den wir überhaupt getroffen haben, war ein Tankwart. Der hat zum Beispiel auf die Frage nach seinem wirtschaftlichen Erfolgsrezept den schönen Satz gesagt: „Ich gebe da einfach nur Vollgas – mehr mache ich da nicht.“ Es gab dann irgendwann zwei klar unterscheidbare Suchstrategien: zum einen haben wir nach Menschen gefahndet, die Experten für das Buch sind und zum anderen nach Menschen, die Experten für die Prozesse sind, die in dem Buch in isolierter Form vorkommen oder mit denen man, mit dem Buch in der Hand, über ihre Arbeit, über ihre Perspektive sprechen kann. Dazu haben wir dann doch zu lesen begonnen. Was wir nicht geschafft haben, war, mit dem Einen zum Anderen zu gehen. Also das Gespräch mit dem Marx-Exegeten und dem Tankwart zu initiieren. Teilweise haben wir es versucht. Z. B. haben wir versucht, Hans Backhaus aus Frankfurt am Main, der uns sehr fasziniert hat, mit Ökonomen von der Deutschen Bank oder auch von der Metzler-Bank zusammen zu setzen. Aber Backhaus hat sich geweigert – er sagte: „Das macht überhaupt keinen Sinn! Was soll ich mit denen reden? Die haben überhaupt keinen Begriff vom GELD – diese Leute sind ökonomisch und philosophisch ungebildet, welchen Begriff ich auch immer benutze, die kennen den ja gar nicht. GELD! Die haben ja keine Ahnung, was Geld ist!“
Es war vertrackt: Wir trafen bei den Marx-Experten, flapsig gesagt, Wühler und Hätschler. Die Hätschler waren in der Überzahl und alle nicht bereit, auch nur einmal den jeweiligen Band aufzuschlagen, es sei denn beim Anfangs- oder Schluss-Satz, und konkret an welcher Stelle auch immer zu zeigen, wo die Lektüre denn einen Schwung ins Heute bekommen könnte, wo der Text zubeißt oder Material liefert für uns heute. Die Hätschler behielten die Hand auf dem Band, trommelten zärtlich mit den Fingern darauf und sprachen so allgemein von seiner immensen Bedeutung und Tragweite und Dichte. Aber wir wollten da reingeführt werden. Einige haben dann die ersten Zeilen vom Anfang vorgelesen oder uns gesagt, dass die ersten drei Kapitel vom Ersten Band sowieso erst nicht missverständlich gelesen werden könnten, wenn man sich das nötige Rüstzeug dazu am Ende vom Dritten Band erarbeitet hat. Die Wühler waren häufig die Theatraleren – die präsentierten, wie z. B. Backhaus oder auch Fetscher, aber auch einige Leute von der MEGA, Spezialprobleme, mit denen sie sich schon so ausgiebig befasst hatten, dass der Diskurs, den wir auf der Bühne unternehmen konnten, ihnen nicht genug Raum verschafft hätte. Zu den Wühlern gehörten auch sehr viele Leute, die in Lesegruppen bzw. in politischen Gruppen sind und Kapital-Lektüre aktuell betreiben. Für uns hat sich aber recht früh herausgestellt, dass wir uns umso weiter von dem Tankwart und seiner wirtschaftlichen Realität fortbewegen, je mehr wir uns mit dem Buch und seinen Kennern beschäftigen.

Henning Fülle: Das bringt mich zurück zu eurem Motiv. Wenn es nun aber um die Strukturen von wirtschaftlichem Handeln, der Logik wirtschaftlicher Prozesse, Marktprozesse, Tauschprozesse, ökonomische Prozesse ging, hätte es ja eigentlich nahe gelegen, einen Klassiker zu nehmen, der die bürgerliche Ökonomie beschreibt. Diese Klassiker kennt kaum jemand, so was wie Schumpeter, Walter Eucken ... , die in ihren kategorialen Apparaten, in ihrer Analytik viel näher an dem, was heutzutage aktuell ist, wie die Börse, Kapitalverwertung, Arbeitsökonomie, dran sind. Denen geht es vielmehr darum, die Prozesse so zu beschreiben, dass sie einen prognostischen Wert bekommen. Die Frage ist, ob durch das Kapital eher die Lust an der Provokation geweckt wird?

Haug / Wetzel:
Eher an der Projektion, die man ja selber hat. Auf Schumpeter projiziert keiner was. Bei Karl Marx, Das Kapital, passiert sofort etwas, das zumeist nichts mit Wissen zu tun hat. Ähnlich gehen die Leute auch in ein Stück. Die einen können es sofort einordnen, haben es gelesen, die anderen kennen es irgendwie, die anderen kennen nur die Straße, die nach dem Autor benannt ist; ähnlich der Bibel oder dem Koran, die auch wunderbare Projektionsflächen bieten. Du hast das Gefühl, du kannst es einordnen und hast es oft nie oder nie richtig gelesen. Ein kurzer Zwischenschritt zwischen unserem Projekt zu Schillers „Wallenstein“ und diesem hier war die Überlegung, Guy Debords „Gesellschaft des Spektakels“ zum Gegenstand einer Arbeit zu machen, aber da hätten wir uns, statt ihn in der Gesellschaft suchen zu gehen, wiederum zum Anwalt des Textes machen müssen, weil ihn praktisch keiner kennt.

Henning Fülle: Wie lange habt ihr recherchiert?

Haug / Wetzel: Ein dreiviertel Jahr haben wir Recherche betrieben, unterbrochen von anderen Projekten und Gastspielen. Hauptsächlich haben wir in Zürich, in Frankfurt, in Düsseldorf, in Berlin gesucht. Wir waren zum Beispiel bei der Chorprobe des Zürcher Eisenbahner-Chors, bei der Hauptversammlung der Deutschen Bank (wo der Versammlungsleiter seine eigene Versetzung aus dem Vorstand in den Aufsichtsrat samt Abfindung für ausfallende Gehälter als Vorstandsmitglied absegnen ließ, sein Name klingt fast wie „börsig“); wir haben dem Kommentator beim „Sparkassen-Renntag“ auf der Düsseldorfer Pferderennbahn zugehört, wie er das sogenannte „Kapital“-Rennen kommentiert; wir sind mit der Düsseldorfer Montagsdemo mitgelaufen (die mussten auf dem Bürgersteig gehen, weil sie zu Wenige waren); wir haben die Gästebücher im Karl-Marx-Haus durchgeblättert mit einer Chinesin, die uns die zahlreichen chinesischen Grußbotschaften an den „Alten Herrn Marx“ übersetzt hat (eine schöne Redewendung in China ist „Marx Sehen“, das heisst Sterben); wir waren bei der Metzler-Bank und bei einer Beratungsstelle für Frauen, die als Prostituierte arbeiten wollen; in der Fabrik waren wir sowieso (wo Spielautomaten hergestellt werden), im Pfandleihhaus, bei Verlagen und so weiter. Aber vor allem haben wir natürlich mit Leuten gesprochen, zum Beispiel dem „Lachsack“, einem Mann, der immer, wenn die Leute ihm Geld in den Hut werfen, lang und schrill lacht. Er sagt, er hat das von einem indischen Lach-Lehrer gelernt, aber auch mit Bankern, Politikern, Leuten wie Dr. Jürgen Schneider einerseits und Dr. Michael Heinrich andererseits.

Henning Fülle: Von den Marxologen habt ihr nur einen auf der Bühne?

Haug / Wetzel: Na ja, es gibt einen mit weißem Bart und einem Namen in der Szene, aber vier, die den Band mehrfach durchgearbeitet haben. Talivaldis Margevicˇs, ein lettischer Filmemacher und studierter Journalist und Historiker. Zum Studium Generale in Riga und Petersburg gehörte eben auch die Kapital-Lektüre, das heißt, bei ihm war die Lektüre immer mit Druck und Widerwillen verbunden. Aber es gibt bei ihm auch die Episode von dem Professor in Petersburg, der ihm signalisiert hat, er solle sich nicht so anstrengen und diesen Text so inkorporieren und phatisch nachplappern, man könne sich auch in einer gesunden, aber nicht so plakativen Distanz dazu bewegen und ganz gut überleben.
Dann gibt es Jochen Noth, der derzeit als Unternehmensberater Firmen im Austausch zwischen China und Deutschland betreut und der den Text während seiner Zeit beim Kommunistischen Bund Westdeutschland eher wie eine Bibel benutzt hat, und dann in Richtung Maoismus abgedriftet ist, bis er selbst einige Jahre in China gelebt hat und dort angesichts der brutalen Auswirkungen des dortigen Systems auf das Leben der Menschen begonnen hat, sich Distanz dazu zu erarbeiten. Aber in seinem Arbeitszimmer stehen viele, viele Bücher aus der Zeit immer noch im Regal und Aktenordner voll mit Dokumenten aus seiner politisch aktiven Zeit Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre. Täglich kam er mit anderen Fundstücken daraus, das Projekt wühlte lange stillstehende Schubladen und Regalbretter wieder auf und im Ergebnis hat er dann zwei Rollkoffer „fromme Literatur“ und auch den gesammelten Stalin „in die Produktion entsorgt“, sie sind Teil des Bühnenbilds geworden und sein Kopf lugt in einem Spezial-Regalfach ab und zu dazwischen hindurch. Auch Kuczynski kam mit einem Rollkoffer an und seinen Kopf sieht man ab und zu zwischen allen Ausgaben vom Ersten Band, wie sie sonst in seinem Regal stehen. Aus Gewichtsgründen hat die Abteilung Requisite den MEGA-Anteil der ca. zwei Meter mittlerweile nachempfunden.
Auch gelesen hat ihn Ulf Mailänder, Coach und Autor, der im Stück in die „Sprachmaske“ des Hochstaplers Jürgen Harksen schlüpft und dessen Perspektive zum Thema Gewinnmaximierung erzählt. Für Harksen hat er auf Basis von Interviews dessen Autobiografie geschrieben, „Wie ich den Reichen ihr Geld abnahm“, ein Buch, das haftverlängernde Wirkung hatte, weswegen wir überhaupt auf die Idee kamen, die Betrüger-Figur mit jemandem zu besetzen, der die Zuschauer für eine Strecke auf der Ebene betrügen kann, auf der zuvor Sicherheit entstanden ist: ,Diese Leute sind und sagen, was sie meinen‘. Es passiert ihnen genau das, was den Investoren mit Harksen passierte, sie investierten aus einem Gefühl heraus und dann kommt die Wahrheit und weil die nicht passt, investieren sie teilweise sogar noch etwas mehr und glauben, dass er kein millionenschwerer Mann sei, das sei die Lüge.
Da sind also versammelt: Margevicˇs, der den Text widerwillig als Staatsdoktrin büffelte, doppelt fleißig, weil er als in Lübeck geborener Lette in der UdSSR schlechte Aufstiegschancen hatte; Noth, der den Text in Heidelberg und China als non plus ultra durcharbeitete und nun beim Gang durch sein damaliges Exemplar nicht nur untypisch sorgfältige Unterstreichungen, sondern auch kleine schweinische Skizzen auf der Rückseite von Sit-In-Flugblättern entdeckt – und Mailänder, der das Kapital nicht in den K-Gruppen, sondern eher in den 80ern gelesen hatte, bevor er es in dem besetzten Haus, in dem er wohnte, mit einem vergoldeten Nagel an die Wand hämmerte. Verglichen mit diesen drei anderen Text-Kennern ist der zweite im Osten sozialisierte, Thomas Kuczynski, derjenige, der nach wie vor im Text und am Text verharrt und an dessen Substanz bis heute arbeitet. Als Theaterwissenschaftler würde man sagen, er lotet den Text performativ aus, indem er sich mit seinen Bruch- und Sollstellen beschäftigt. Weil es den einen Text speziell in diesem Falle ja nicht gibt. Er steht für uns auch für eine ganze Reihe spannender Begegnungen mit Mitarbeitern der MEGA. Dann gibt es einen fünften Kenner der „Materie“: Während der Inszenierung liest der Blinde, Christian Spremberg, im Kapital – aber in der Blindenausgabe. Er arbeitet sich also Abend für Abend mit seinen Händen durch den Text und macht den Vorgang des Lesens zu einem manuellen, da geraten Handwerk und Arbeit der Lektüre in eins. Und es gibt zwei Leute, die aktuell mit dem Lesen begonnen haben: Der junge Kommunist Sascha Warnecke, dem man anmerkt, dass das, was sich da sprachlich, ökonomisch und philosophisch ereignet, ihm nicht hilft bei seiner ganz konkreten politischen Arbeit. Das hängt zu hoch, das ist irgendwie zu kompliziert, weil eben Kritik der politischen Ökonomie. Das findet Ralf Warnholz auch, der enttäuscht von den Kungeleien aus der Gewerkschaft ausgestiegen ist, bei uns eher als Allegorie des Arbeiters, der am Spielautomat Kapitalist spielt, auftritt. Nach dem ersten Treffen (da haben wir bei einer Sitzung seiner Selbsthilfegruppe ehemals Spielsüchtiger mitgemacht) ging er in den Buchladen und kaufte sich die Pflasterstein-Ausgabe, las ein bisschen, pfefferte sie weg und sagte „So’n Quark“. Als er das dann erzählte, war er genommen. Aber vor allem in Auseinandersetzung mit Kuczynski, der für ihn anfangs nur rote Tücher schwang, fing er dann wieder an und liest – auf der Nachtschicht in der Bereitschaft. Insofern sind da schon relativ viele Marxologen, die sich aber leider auf der Bühne nicht streiten.

Henning Fülle:
Es passieren keine alten Fehden? Wenn man die Linie Kuczynski und Noth, den Gewerkschafter und dann noch den lettischen Filmemacher betrachtet, sind das historisch gesehen Linien, die sich heftig bekriegt haben.

Haug / Wetzel: Natürlich gab es Konflikte und Vorbehalte, aber das hatte keinen Bestand gegen das, was dann eigentlich einsetzt, nämlich, dass in zwei Wochen Premiere ist und es noch nichts zu zeigen gibt – was machen wir jetzt?! Und das Erlebnis, gemeinsam an etwas Neuem zu arbeiten und den Freiraum einer Bühne nutzen zu können, ist auch einfach stärker, als sich auf Streit zurückziehen zu können. Etwas Schönes ereignet sich bei solchen Projekten immer eher auf der Hinterbühne: Die Leute beginnen, einander zu verstehen, es entwickelt sich eine Gruppe mit verschiedenen Gesprächsverläufen, die sich über die Monate hinweg fortsetzen. Das sind kleine Stücke für sich. Für Theatermacher mit anderen Bedürfnissen wäre da auch ein wichtiger Zwischenschritt zum Theater-Spielen auf der Bühne. Uns interessiert das eher privat und auf der Bühne wollen wir die Differenz erhalten, das Unvereinbare und auch lieber die normale Verkrampfung, mit der wir so herumlaufen, statt lauter gelockerte, gut atmende Theaterspieler auf der Bühne zu versammeln. Es gibt bei uns auch keine dieser sonst üblichen Lockerungsübungen und alle Formen des programmatisch Kollektiven sind uns suspekt; wir arbeiten an Stabilisations-Strategien gegenüber den Einzelnen, wie sie da zur Tür hereingekommen sind zu Beginn des Arbeitsprozesses.

Henning Fülle: Ist das Zeitmaß von zwei Wochen real?

Haug / Wetzel: Na ja, wir haben drei Wochen richtig geprobt. Proben heißt, es sind alle da. Bei diesem Stück muss man ,fast alle‘ sagen, denn zwei kamen doch ziemlich spät mit ins Team: Ulf Mailänder eine Woche und Sascha Warnecke zwei Tage vor der Premiere ... Vor dem Beginn der ,Gesamtproben‘ haben wir aber schon mit Einzelnen gearbeitet. Wir probieren viel aus, lassen viel stattfinden und arbeiten nicht in einen Setzkasten rein, der vorher schon besteht. Das ist ja die große, na ja Lust kann man es nicht nennen, das große Interesse gewesen, mit einem Text zu arbeiten, der einen so erstickt, dass man sich in anderer Form einen Umgang damit überlegen muss, als den, zu versuchen, ihn in seiner Fülle oder Gänze gerecht zu werden, oder ihm „treu“ zu sein, wie das der Bundespräsident mal angemahnt hat. Das war von vornherein ausgeschlossen. Die Unmöglichkeit, dem Text einfach zur Wirkung zu verhelfen, erzeugte übrigens eher Spannungen in Richtung der ,Entscheider‘. Egal ob im Westen oder im Osten sozialisiert, gab es eine unausgesprochene Antipathie, die sie alle geteilt haben: nämlich gegenüber ,Entscheidern‘. Gegenüber Leuten, die einem sagen wollen, was die gute Sache wäre und wie es richtig wäre, in dem Fall also gegenüber uns. Damit haben wir immer und sofort auf die unterschiedlichste Weise subversive, nicht leicht erkennbare Gegenstrategien provoziert. Du kannst bei Leuten, die soviel Marx in sich aufgenommen haben und eine derartige Geschichte haben, als eigentlich Liberaler im Kommunismus, wie Margevicˇs oder 68er oder Kuczynski nicht sagen: das ist gut und deswegen machen wir das jetzt – und dann macht er das. Dagegen gab es ein inneres Sträuben bei fast allen, etwas gewachsen, instinktiv Politisches, das sie alle teilen und dem wir uns gegenüber sahen.

Henning Fülle: Der Modus der Kritik beruht auf einer möglichst umfassenden Aneignung des Gegenstandes, und zwar sowohl was seine materielle Dimension angeht, wie macht ihr das eigentlich. Marx hat sich von Engels wirklich erklären lassen, wie die Buchhaltung abläuft, was die Rohstoffe kosten, die Löhne. Das ist ein Rechercheprozess wie er im Buche steht und das Ergebnis läuft auf was ganz anders heraus. Marxens Anspruch ist ja, dass das Ergebnis seiner Recherche möglichst umfassend ist, dass es auch keine blinden Stellen mehr gibt und keine Fehler in der Herleitung der ganzen Dinge. Ein komplettes Panorama, um dann die zugrunde liegende Struktur von der Elementarform der Ware zu rekonstruieren als einen theoretischen Vorgang. Diese wissenschaftliche Anstrengung dient dazu, dass die Akteure die Theorie so verstehen, dass sie den ganzen Krempel in die Tonne treten können. Das ist auch ein hochmoralischer Vorgang. Die Befreiung des Proletariats und die Befreiung des Menschengeschlechts ist das letzte Ziel der ganzen Anstrengung. Gibt es eine ähnliche Anstrengung bei euch?

Haug / Wetzel:
Den moralischen Vorgang gibt es nicht – das kann man mit Theater so nicht einfach übernehmen. Wir machen uns nicht zum Transporteur des Anliegens eines Textes. Er spielt eine Rolle, wie die anderen auf der Bühne auch. Unsere Anstrengung ging einen Schritt hinter das Anliegen des Textes – was ist so ein Buch überhaupt und was heißt Lesen, was ist das, so ein Buch zu lesen. Das ist die erste politische Dimension, um die es in unserem Projekt geht. Und deswegen sind wir auch fragen gegangen, statt zu lesen. Und deshalb war es für uns ein großer Spaß, aber auch ein Anliegen, das so konkret wie möglich zu kriegen. Da wird ungefähr in der Mitte des Abends der Band 23 der MEW an alle Zuschauer ausgehändigt und später geht das Licht an und es wird konkret darin gemeinsam gelesen, für einem Moment. Aber es gab eingangs einen deutlich didaktischeren Ansatz als im Ergebnis. Und dann merkten wir, dass das ganze Unterfangen für uns nur Sinn macht, so lange die Arbeit sich an den Menschen orientiert, an dem, was sie zu erzählen haben, nicht an dem, was gedruckt steht. Das war schwierig, denn damit bekamen wir den Sozialismus nicht von den Schuhen gekratzt, der steht zwischen unserem gelebten Leben und dem Text. Dabei war ein Beweggrund, sich auf den Text einzulassen, neben blanker Neugierde auch eine „Unschuldsvermutung“. Aber mit dem Gang zu den Lesern haben wir uns sozusagen mindestens von Marx zu Engels bewegt, den Marx ja gefragt hat, wenn es mal um die Situation des Einzelnen in der Fabrik ging. Die Menschen brachten Struktur mit, durch das, was sie erzählen. In dem Maße, wie wir uns von diesem Material leiten ließen, waren wir dann auf der Suche nach einer Dramaturgie, die die Erzählungen fasst und uns die Möglichkeit gibt, das als Stück zu organisieren. Um diesen Gegensatz zwischen Kritik der politischen Ökonomie und Betrachtung des eigenen Lebens in die Schwebe zu bekommen, haben wir den teils auch verlustreichen Reißschwenk von der Struktur des Textes auf die Chronologie vollzogen, vom Gelesenen zum Leser: Wer von den Anwesenden hat 1944, 1968, 1974 und so weiter was gemacht. Wer der Anwesenden hat Aktien, wer war im Gefängnis, wer in einer Kirche und wer in einer Partei. Alle Versuche, sich von der Argumentation und auch der Kapitelstruktur im Ersten Band leiten zu lassen fielen dabei nach und nach fast vollständig weg – auch aus Gründen der Aufmerksamkeits-Ökonomie, die im Theater eben eine völlig andere ist als zwischen Buch und Leser. Wir haben mit dem Statistiker Kuczynski nie zu quantifizieren versucht, wieviele Minuten ein Zuschauer „wirklich“ dabei sein kann während zwei Stunden, aber dass er mindestens 1500 Stunden bräuchte, um den Band „wirklich“ zu lesen, also ein ganz normales Arbeitsjahr inklusive sechs Wochen Urlaub, das rechnet er in der Einleitung vor.

Henning Fülle: Gab es Konflikte, die zu einem Ausstieg von Protagonisten geführt haben?

Haug / Wetzel: Es ist keiner ausgestiegen, aber es gab Strecken des großen Zweifels und es sind einige letztlich lieber nicht eingestiegen, wie z. B. alle, die eher von der Charaktermaske des Kapitalisten her gesprochen hätten. Wir haben mit einer ganzen Reihe von Bankern geredet, aber auch Groß-Erben, ehemalige Vorstandsmitglieder – spannende Personen, teils auch mit Kapital-Kenntnis. Es gibt da aber eine andere Form von Etiketten-Bewusstsein und Risikodenken. Bei anderen hat es nicht geklappt, weil sie wie Harksen zum Beispiel im Gefängnis waren ...
Teilweise wollten sie mit Theater lieber nichts zu tun haben, vielleicht haben wir da auch das falsche Auftreten. Es gab, apropos Ausstieg, eine Person, die sehr gern mitgemacht hätte, Lolette, die in Berlin als selbständige Prostituierte arbeitet, die sich aber nicht entschließen konnte, ihren „Laden“ für ein paar Wochen zuzuschließen. Sie wurde dann eine wichtige Stimme in dem gleichnamigen Hörspiel, das wir später mit überwiegend denselben Leuten gemacht haben. Dafür haben wir zwar manche Aufnahmen von allerersten Begegnungen verwendet – die eine Frische haben, die mit der geringsten Theater-Arbeit sofort verfliegt –, aber vor allem war es uns ein Bedürfnis, nach all dem Zeile für Zeile Durchgearbeiteten und in eine feste Form Geratenen des Theaterstücks, die Leute nochmal anders zur Sprache zu bringen und die Leute aufzunehmen, wie sie sich mittlerweile zum Lachen bringen konnten, streiten und überhaupt in spontanen Gesprächs-Momenten, die für das Theater eben undenkbar sind, weil unwiederholbar und manchmal auch nur sinnvoll in dem direkten Zusammenhang, den das Hörspiel anbietet: Vom Mund zum Ohr, durch einen Apparat vermittelt, der beiden ihren eigenen Raum lässt. Diese Aufnahmen entstanden in kleineren Runden am Küchentisch mit ein paar ausgeliehenen Mikrofonen, auf der Hinterbühne und in Garderoben während Aufführungen, in der Hotelbar – und eben in der Begegnung mit Lolette, die nun das alles nicht mitmachen hatte können und so den anderen prima zuhören konnte und dann fragen: „Um was geht es denn hier überhaupt, ich verstehe nur Bahnhof!“

Henning Fülle: Wenn die Seite der Protagonisten betrachtet wird, kann man feststellen, dass das jedenfalls alles Leute sind, die per Wissenschaft oder per politischem Engagement mit dem Text in Berührung gekommen sind. Da findet man auch eine Struktur heraus, sprich der Marxologe, der aus der DDRTradition stammt, ein 68er, der aus der westdeutschen Tradition stammt, jemand der aus dem Einflussbereich der Sowjetunion stammt und ein Gewerkschafter, der vom Ursprung her aus der Arbeiterbewegung kommt. Das klingt dramaturgisch sehr genau gesetzt und strukturiert. Hat diese Überlegung eine Rolle gespielt bei der Auswahl der Protagonisten?

Haug / Wetzel: Es ist nicht so, dass wir am Reißbrett sagen, wir brauchen den, den, den und den. Wir fahren einfach hin, fragen jemanden, lernen und erfahren etwas. Es gibt Begegnungen, bei denen zündet es und wir kapieren plötzlich, was für ein Stück es werden kann. Die zündende Idee kommt oft über die Person selber. Das kannst du nicht planen, das ist wie wenn du an Sylvester eine gute Party haben willst.

Henning Fülle: Das mit den Bühnenbild habt ihr aber vorgegeben?

Haug / Wetzel: Ja und auch die Freiräume, die von den Protagonisten aufgefüllt werden sollten, waren vorgegeben. Es war klar: Es geht um ein Regal, zusammengeschraubt aus vielen alten Möbeln, mit vielen Büchern, aber vor allen den dreihundert Ausgaben vom Kapital, die dann im Laufe des Stücks an die Zuschauer verteilt werden. Ein Regal, in dem man aber auch sitzen kann, in dem man seinen Kopf zwischen die verschiedenen Ausgaben vom Kapital stellen kann, in dem es spukt, das ein Eigenleben hat, viel Geschichte, aber auch Platz für den Mosel-Rotwein, der mit dem Konterfei von Marx in seinem Geburtshaus in Trier verkauft wird. Viele Ordner stehen da, Bücher unserer Protagonisten, Noth hat seinen Stalin in das Regal „entsorgt“ und Sprembergs Plattensammlung hat in kleiner Auswahl auch einen Ort gefunden, gleich neben dem schwarzen Panther und in der Nähe einer lettischen Ausgabe von „Mein Kampf“ vom Schwarzmarkt in Riga, die dort 20 Mal weniger kostet als die russische Ausgabe vom Ersten Band von Das Kapital.

Henning Fülle: Das Stück wird Anfang Mai zum 50. Mal gespielt, es hat sich im Laufe der Aufführungen verändert, es wurde mit dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet und hat in der Theater- und Verlagsszene eine ziemlich emotional geführte Debatte über Dramentexte ausgelöst – wie geht es weiter?

Haug / Wetzel: Für den zweiten Band gibt es das Konzept, ihn in der Oper singen zu lassen, wahrscheinlich auf die Partitur der „Meistersinger“. Aber das überlegen wir uns nochmal.

* Seit dem Jahr 2000 arbeiten die Regisseure Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel
unter dem Namen „Rimini Protokoll“ zusammen. Die Inszenierung „Karl Marx: Das Kapital,
Erster Band“ von Helgard Haug und Daniel Wetzel hatte am 4. November 2006 am Schauspielhaus Düsseldorf Premiere und wurde seitdem überaus erfolgreich an mehreren deutschen (Hebbel am Ufer, Berlin, Schauspiel Frankfurt, Kampnagel Hamburg, Residenztheater München u. a.), aber auch auf internationalen (Zürcher Schauspielhaus, Kunstenfestival des Arts
Brüssel, Theaterfestival Modena, u. a.) Bühnen gezeigt, 2007 mit dem Mülheimer Dramatikerpreis und dem Mülheimer Publikumspreis ausgezeichnet; für die Hörspielfassung wird den Regisseuren im Juni 2008 der renommierte „Hörspielpreis der Kriegsblinden“ verliehen. Soeben (März 2008) erhielten sie gemeinsam mit dem dritten Mitglied von Rimini Protokoll, Stefan Kaegi, den „European Theater Prize for New Theatrical Realities“ in Thessaloniki. Zum Theaterkonzept von Rimini Protokoll siehe: Miriam Dreysse, Florian Malzacher (Hrsg.): Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll. Berlin 2007. Zum Kapital-Stück siehe dort Hans-Thies Lehmann: Theorie im Theater. Anmerkungen zu einer alten Frage. S. 164–182.
– Die Fragen im hier dokumentierten Gespräch stellte der Dramaturg und Marx-„Experte“
Henning Fülle (Berlin). (Anm. der Red.)


Marx-Engels-Jahrbuch 2007. S. 119–131.
Akademie-Verlag, 2008
ISBN-10: 3050044217
ISBN-13: 978-3050044217