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Ich spiele Kathert

Während einer Ausbildungspause mit Offiziershörern an der Militärakademie »Friedrich Engels«, 1975

Auf der Bühne, Dresden 2009 © Matthias Horn

Karl-Heinz Kathert - Rufname sprich "Karl-Heinz"

wurde in Magdeburg 1929 geboren. Gelernter Dreher. 1948 zeitweilig Dienst bei der Schutzpolizei in Magdeburg. Danach wurde er ausgewählt zum Dienst bei der Grenzpolizei (Dienstgrad: Kommissar) an der Demarkationslinie zwischen der Sowjetischen und der Britischen Besatzungszone. Ab 1958 als Major an der Grenze zwischen der DDR und der VR Polen als Stellvertreter des Brigade-Kommandeurs. Studium an der Militärakademie »Friedrich Engels« in Dresden als Oberstleutnant von 1962 bis 1964. Danach Stellvertreter der Kommandeure der Grenzbrigaden Rudolstadt und Kalbe/ Milde an der Staatsgrenze zwischen der DDR und der BRD. 1967 Beförderung zum Oberst. Von 1972 bis 1983 Hauptfachlehrer an der Militärakademie »Friedrich Engels« in Dresden speziell für die Heran- und Weiterbildung von Offizieren der Grenztruppen, unter anderem auch jungen Offizieren der Vietnamesischen Volksarmee.

Ab Juli 1987 Hauptbetreuer der vietnamesischen Werktätigen im VEB Herrenmode Dresden, bis zu deren Rückführung Anfang 1991. Autor mehrerer Publikationen über die Geschichte der NVA und der Grenztruppen der DDR. Seit frühester Jugend überzeugter Sozialist: heute aktiv in der Partei Die Linke. Engagement in der Kommunalpolitik der Landeshauptstadt Dresden. Als leidenschaftlicher Tourist hat er seit 1956 bereits alle Kontinente bereist, außer Australien – in letzter Zeit am liebsten per Kreuzfahrtschiff. War selbst leider noch nicht in Vietnam. Er ist seit vierzig Jahren passionierter Jäger.

Mit gestrecktem Reh- und Schwarzwild in der Altmark, 1968 (Karl-Heinz Kathert links)

Auf der Bühne, Dresden 2009 © Matthias Horn

Karl-Heinz Kathert über seine Zeit als Betreuer der Vietnamesen

»1987 erhielt ich eine für mich völlig neue Aufgabe: Da der Betrieb für den Standort Dresden verantwortlich war, wurde ich Hauptstandortverantwortlicher, zuständig für ca. 1000 Vietnamesen in zehn Betrieben. Vor allem im VEB Herrenmode. Die Übernahme dieser Tätigkeit war für mich völliges Neuland und meine erste Amtshandlung bestand in der Erarbeitung einer Konzeption zur Eingewöhnungsphase. Das waren keine Befehle, sondern ein Rahmenprogramm.

Ich hatte den Auftrag bekommen, alle ankommenden Vietnamesen persönlich am Flughafen Schönefeld in Empfang zu nehmen und mit Bussen nach Dresden zu bringen. Bei Abholung der allerersten Gruppe war ich erstaunt, wie jung alle waren. Wir hatten gedacht, dass alle ausgebildete Produktionsarbeiter wären. Da wurde mir klar, was eventuell auf uns zu kam. Von der Gruppenleiterin erfuhr ich, dass es ein Auswahlverfahren in Vietnam gegeben hatte.  Ausgewählt wurden ehemalige Soldaten oder Kinder aus Soldatenfamilien. 

Wir fuhren zunächst in die Wohnheime. Neubezug, ganz modern eingerichtet. Das Land wünschte eine zentrale Unterbringung. Die Begrüßung der vietnamesischen Werktätigen in den Werken und Vorstellung der staatlichen Leiter und Funktionäre der Werke dauerte insgesamt eineinhalb Stunden und war mit einem feierlichen Empfang verbunden. In der Vorbereitungsphase hatten die Köchinnen mich gefragt: ›Was können wir denen bieten?‹ Und aufgrund meiner früheren Tätigkeit an der Militärakademie "Friedrich Engels", in der ich schon vietnamesische Offiziere ausgebildet hatte, wusste ich: Vietnamesen lieben als Hauptspeise Reis. Als dann der Reis auf dem Tisch stand, verfinsterten sich die Minen der Mädchen, die Schüsseln blieben unberührt. Sie kannten die Art der Zubereitung, nämlich des deutschen Milchreises, nicht. 

Auf Anordnung der vietnamesischen Botschaft wurden die Reisepässe der Vietnamesen eingesammelt und zentral in der Botschaft deponiert, von jedem wurde ein Passbild für den Werkausweis gemacht. Sie hatten nur den Werkausweis, der zum Betreten der Betriebe und Wohnheime berechtigte, aber keine Möglichkeit die Grenzen der DDR zu überschreiten.  

In der ersten Zeit gab es viele Bedenken der Werktätigen, ob es gelingen würde, die jungen Vietnamesen richtig einzugliedern. Sehr schnell stellte sich heraus, dass die Qualität und Quantität durch die Fingerfertigkeit und den Eifer der Vietnamesen wuchs. Sie arbeiteten oft über die Planerfüllung hinaus. 

Die Produkte des VEB Herrenmode Dresden gingen zu zwanzig Prozent in den eigenen Markt, zu vierzig Prozent in den Osten in Richtung Moskau und zu vierzig Prozent in die BRD, sogar an große Firmen wie C&A. Unsere Fahrbereitschaft holte in regelmäßigen Abständen Stoffe und Einnäher von C&A aus Hamburg. Auf dem Weltmarkt spielten wir damals die Rolle, die heute die Chinesen übernommen haben. Das sollte sich unverhofft bald wieder ändern. 

Als Militärkader weiß ich, dass der Rückzug eine komplizierte militärische Bewegung ist. Mit der Einführung der D-Mark am 1. Juli 1990 war aus dem gut laufenden VEB HErrenmode Dresden über Nacht die "Desdner herrenmode GmbH" geworden, ein hochverschuldeter Betrieb ohne Abnehmer und ohne Rücklagen.  Für die Firmen der BRD waren wir nicht mehr billig genug und die Kunden in der Sowjetunion hätten nicht die Valuta gehabt, um am neuen Markt mitzuspielen. Die D-Mark traf unseren Betrieb wie das Karnickel ein Schlag ins Genick. Die Produktion ging zurück, fast gegen Null, und wir mussten alle vietnamesische Kolleginnen und Kollegen in die Arbeitslosigkeit zuschicken. 

Die Bonner Regierung akzeptierte die weitere Gültigkeit des Regierungsabkommen zwischen der DDR und der Sozialistischen Reublik Vietnam und so wurden die 60.000 Vietnamesen, die zu der Zeit in der DDR lebten, vor die Wahl gestellt: bleiben oder gehen. Natürlich wären die meisten am liebsten hier geblieben, aber die Bedingungen waren einfach zu hart oder die Verlockungen zu groß: Jedem standen aufgrund der vorzeitigen Kündigung des Arbeitsvertrags 3.000 DM Entschädigung zu und der kostenlose Rückflug nach Vietnam.

Aus dem Textbuch von Vung Bien Gioi

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