warum googeln Sie nicht ein bisschen?

Helgard Haug und Daniel Wetzel von Rimini Protokoll haben keine Lust, das Drama auf den Punkt zu bringen. Auch gut!

Von Jan Oberländer und Anne Peter

07.05.2008 / www.nachtkritik.de

Helgard Haug und Daniel Wetzel, Sie haben im letzten Jahr mit "Karl Marx: Das Kapital, Erster Band" den Mülheimer Dramatikerpreis gewonnen. Die Vergabe des Preises wurde kontrovers diskutiert: das Stück sei kein "Drama". Konnte Sie die Diskussion um Ihr Stück in irgendeiner Weise beeindrucken?

Wir haben die Debatte der Preis-Vergabe-Jury übers Internet von Zürich aus verfolgt, wo wir gerade mit Kollege Kaegi an "Uraufführung: Der Besuch der Alten Dame" gearbeitet haben – übrigens ein Versuch, ein Stück wie das Dürrenmatts auf unsere Weise aufzuführen. Dann sind drei oder vier Artikel als Kommentare
zum Preis erschienen, die wir mitbekommen haben, aber das ist immer so eine Sache, wir sehen unsere Arbeit so anders als sie in der Presse behandelt wird – das nehmen wir dann eher so zur Kenntnis.

Sehen Sie sich selbst als Dramatiker?

Als Autoren. Aber wir sind auch Filmer, Schneider, Komponisten, Bühnenbildner, überhaupt Ausdenker und Ausprobierer, Ton-Angler, Fragen-Geher, Schlappen-Einstecker und zuversichtliche Zweifler. Sich selber sieht man ja nicht so richtig scharf – und diese Unschärfe kultivieren wir.

Wir würden gerne etwas schärfer werden. Ist also ein Autor dasselbe wie ein Dramatiker? Schließlich wird der Preis für ein Drama verliehen.

Warum gucken Sie nicht mal bei Aristoteles rein oder googeln ein bisschen? Es ist ja einmalig, dass eine Preis-Vergabe derart selbst zur Aufführung wird, an der man teilhaben kann. Deren Verlauf müssen wir nicht rechtfertigen und unsere Arbeitsweise auch nicht im Nachhinein umdefinieren zum Dramatikerhandwerk. Unser Stück als Text, den Sie jetzt auch nachlesen können, war später fertig als seine Inszenierung. Aber beide zielen permanent in Richtung Zuschauerraum, nicht in Richtung Regal. So weit haben wir gearbeitet, dann kam die Einladung, dann kam der Preis, der selber weiß, was er will.

Kann man heute überhaupt noch klar definieren, was ein Drama ist?

Warum nicht? Auf verschiedenste Weise –und seit jeher gibt es zwei Wurzeln: Definitionen in Form dramatischer Texte und seit Aristoteles auch in Form poetologischer Texte. Aber Theater entsteht nicht zugunsten des Dramas, sondern Dramen entstehen im Hinblick auf das, was mit ihnen als Text in einem anderen Raum als dem Buch geschehen soll. Sie täten gleich zum Auftakt dem Stücke-Festival und seiner Geschichte unrecht, wenn Sie sein Programm reduzieren wollten auf Schulbuchformeln wie das Drama als vorgeschriebene Handlung oder das Festival als Konferenz zur Herstellung von Blog-kompatiblen Klarheiten. Unsere Arbeit verhält sich immer auch zu der Frage, was Text auf der Bühne sein kann, was er kann und woher er kommt. Uns interessiert nicht der von der Person abgelöste Text sondern dessen Entstehung.
Deswegen zeigen wir zur Zeit neben dem "Kapital" und "Wallenstein" auch ein Stück, bei dem 80% jeden Abend variieren, weil sie live auf die Minidramen reagieren, die am Abend der Aufführung als Nachrichten im Fernsehen laufen ("Breaking News"), und ein anderes Stück, bei dem genau ein Mensch mit genau einem anderen eine knappe Stunde lang einfach telefoniert, der eine in Europa, weil er das für 12 Euro als Theater gebucht hat, der andere als Callcenter-Mitarbeiter mit 2,30 Euro Stundenlohn ("Call Cutta in a box") – und ein anderes Stück, bei dem 100 nach statistischen Kriterien gefundene Berliner nach und nach sagen, wer sie sind und dann in so einer Art Statistik-Revue sich zu einer Kette von Aussagen mit "Ja" oder "Nein" und "ich" oder "ich nicht" positionieren ("100 Prozent Berlin").

Für Sie ist ein Drama also ein Text, der in einem Raum gesprochen werden kann?

Paperlapapp. Aber wie Sie vielleicht gemerkt haben, haben wir weder auf, noch abseits der Bühne Lust dazu, Ihnen Beiträge zum Gewaber der Definitionen zu liefern. Wunderbarerweise müssen wir die Dinge, denen wir begegnen auf der Bühne nicht runterbrechen auf Definitionen, sondern wenn es gut geht, gehen Ihnen als Zuschauer während einer Aufführung ein, zwei Definitionen flöten, wenigstens temporär – dann ginge es Ihnen wie uns während der Arbeit.

Okay, nochmal andersrum: Haben Sie sich über die Einladung nach Mülheim eigentlich gewundert?

Sobald die Nominierung da war, fanden wir es eine sehr plausible Idee, unsere Arbeit einer Diskussion zu stellen und in einen Vergleichszusammenhang, der vom Drama aus denkt. Und so war es dann auch. Einer, der den Mülheimer Wettbewerb über Jahre verfolgt hat, hatte uns im Vorfeld gesagt: "Die zerreißen Euch in der Luft." Aber das war überhaupt nicht so. Die Zuschauer wollten mehr wissen dazu, was unsere Protagonisten gesagt hatten, wie sie zusammengekommen waren, wie das Stück entstand. Es gab eine ganze Reihe Gesprächs-Anfänge trotz der knappen Zeit, die danach noch fortgesetzt wurden und überhaupt war unser Erlebnis dort mit dem Publikum ein sehr, sehr gutes.
Soweit wir das aus dem Augenwinkel mitbekommen haben, kam die einzige derbe Kritik an der Jury-Entscheidung übrigens von einer Firma, die davon lebt, dass Leute Texte schreiben, die dann auf ganz vielen Bühnen von verschiedenen Leuten gespielt werden können. Da gehen ästhetische und ökonomische Dinge Hand in Hand, wogegen ja nichts einzuwenden ist, solange nicht der ökonomische Faktor zu ästhetischen Dogmen und formalen Beschränkungen führt. Es hat auch niemand, obwohl es auch kritische Stimmen gab, die Differenz zwischen Vorlage und Inszenierung aufgemacht. Die ist offenbar eher im akademischen und im Zunft-Milieu wichtig. Auch für uns,
weil sie mit der Frage zusammenhängt, was auf der Bühne überhaupt gesagt werden kann. Wie soll das entstehen, wer steht da, in welchen Kategorien denkt das, was da stattfindet – immerzu in denen, was der Dichter wolle und ob der Regisseur das kapiert habe und ob der mit den Schauspielern klarkam? Wie gehen wir denn um mit solchen Texten wie dem "Kapital"?

Interviewen Sie sich ruhig selbst...

Wir sind mit der Behauptung gestartet, dass das "Kapital" ein dramatischer Text sei, weil es permanent Handlungs-Beschreibungen liefert, Szenen wie denen des Tausches auf den Grund zu gehen versucht und dabei vordringt auf Ebenen dieser Akte, die von den Akteuren überhaupt nicht mitgedacht werden. Konkrete Arbeit zum Beispiel wird erst im Tausch ihrer Ergebnisse zu abstrakter Arbeit. Bitte, bitte, nicht vorspielen!
Deshalb sind wir suchen gegangen nach Lesern und von da aus weiter. Als wir Thomas Kuczynski begegneten, der auf der Bühne so einen Marx-Herausgeber gibt, wie er einer ist, da haben wir ihm von unserem Unterfangen erzählt, das heißt wir haben ihn mit Fragen gelöchert über das "Kapital" und wir wollten ihn davon überzeugen, dass es wichtig ist, in diesen Probenprozess einzusteigen, gerade weil wir noch keinen Stücktext hatten und auch keine Lust, einen zu schreiben ohne ihn. Er sagte, er müsse da mal in die Badewanne. Das ist ein Ort, wo er nachdenken kann, ohne gleich zu schreiben. Aber er kam dann ausgerechnet mit so einer Art Dramolett wieder, weil es ging ja um's Theater und wie man den Marx da hinein bekommt. Er hatte einen seitenlangen Dialog geschrieben, in dem der eine dem anderen entgegenhielt, was man im "Kapital" heute Verwertbares finden könne. Damit konnten wir nicht weiterarbeiten, aber nun war er da, und wir konnten andere Vorschläge machen, und dann hat er wieder Vorschläge gemacht, und so ging es fort.

Wie genau ging es fort? Haben Sie gemeinsam das Stück geschrieben?

Was heißt Schreiben? In unserem Fall zum Beispiel: Jemandem länger zuzuhören, ihn zu überreden, dass man das nochmal tun darf, weil das solle Theater werden, dann wieder sprechen, später mit Vorschlägen zurück zu kommen, was von dem einmal spontan Gesprochenen in einer Form auf der Bühne sich weiterentwickeln könnte, das auszuprobieren, mitzuschreiben, darüber zu reden, dass das alles interessant und wichtig ist, das eben Gesagte untereinander zu überprüfen und zu besprechen, wieder am Text zu feilen, darüber zu sprechen, dann wieder zu probieren, wie das klingt, zu überlegen, wie man das organisiert, dass Leute dem folgen können, die nur mal eben ins Theater gekommen sind aus Interesse oder wegen der Freikarte oder der Freiheit oder dem netten Nachbarn – dann zuzuschauen wie aus 30 fantastischen Minuten unter den eigenen Händen drei Minuten werden, wegen der Zuschauer, das Zwischenergebnis zusammenzudenken mit anderen Zwischenergebnissen, Lücken spüren, Halt suchen in Form-Angeboten – Zitate, wiedererkennbare Strukturen, Rhythmen – das ganze rausschmeißen, nach ein paar Tagen wiederentdecken – das ist ein Prozess des Schreibens an so etwas wie einem Stück. Und da greifen Ihre Knapptext-Fragen nach dem Dramatiker einfach zu kurz. So ein Arbeitsprozess im Theater ist inhaltlich, strukturell, kategorial, menschlich, emotional, semiotisch viel komplexer, als Sie das jetzt benannt haben wollen. Da gibt es Momente großer Orientierungslosigkeit, die streben wir sogar permanent an. Und dann Strategien, wie wir das Gefundene so organisieren können, dass es auf der Bühne weiterdenken kann, ein Denkprozess bleiben kann, der nicht vorgaukelt, mittlerweile hätte da irgendeiner die Weisheit mit Löffeln gegessen und die Sichtbaren würden das nun öffentlich nachkauen.

Sagen wir also einfach: Sie sind Theatermacher, nicht unbedingt Dramatiker. Werden aber überraschenderweise zu einem Dramatikerfestival eingeladen und gewinnen dort auch noch den Preis.

Stimmt.

Also hat man Sie einfach in eine Schublade eingeordnet, in die Sie sich selbst gar nicht einordnen würden?

Schon wieder richtig.
Aber vielleicht hat sich auch die Schublade verändert.Wieso soll so ein Festival eine Kommode sein? Wieso soll Theater Schubladen haben? Wieso suchen Sie auf der Text-Messe des Theaters nach den Antiquitäten?
Bei diesem Preis in Mülheim gab es eine Auswahl-Jury, die unsere Arbeit ins Rennen geschickt hat, was der Preisjury – eine zweite Instanz – bestimmt Bauchzwicken bereitet hat. Das ist ja wohl das Mindeste, was manvon so einem Prozess erwarten kann, wenn er sich der Öffentlichkeit aussetzt, wie das in Mülheim ausnahmsweise der Fall ist. Aber für Theaterjunkies wie diese Juroren ist die Frage offenbar virulent, wie Text und Theater zueinander stehen und was Theater heute kann. Für uns auch, aber doch nicht um des Dramas willen.
Wir arbeiten in das Theater und ins Radio hinein und wir finden immer wieder für uns neu heraus, was jetzt Text ist, woher er kommt, wie er zustande kommt – weniger in Auseinandersetzung mit Szondi und Brecht, sondern in Auseinandersetzung mit unserem Material, und das ist hier und heute. Das zwingt uns. Wir sind permanent auf der Suche nach allem Möglichen, bloß nicht nach dem Drama, das müssen Sie uns bitte glauben.
Es geht darum, was da einer öffentlich sagt, woher sein Text kommt: Aus welchem Kopf, und wo der ist, und was er ansonsten so macht. Das ist unser Statement, wenn Sie so wollen, zur Dramatik: Wir arbeiten mit Menschen, die etwas von dem sagen, was sie zu erzählen haben, die dabei auf sich verweisen und ihr Denken, nicht auf die Intentionen eines Autors – und die bereit sind, sich damit öffentlich ins Spiel zu setzen. Die erforschen da in unserem Apparat ein kleines bisschen ihre eigenen Rollen und wenn das ein Quäntchen minimaler Katharsis erzeugte bei Ihnen, während Sie zuschauen, dann hätten wir nichts dagegen.

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Teil 2 des Interviews auf nachtkritik.de:

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