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Vùng Biên Giói

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Gedanken zur Inszenierung und Besuch bei zwei Dresdner Experten

von Christine Wahl

 

Dresden 1988. Auf dem Weg zur Schule fahre ich jeden Morgen an einem Hochhaus vorbei, dessen Fassade der realsozialistischen Neubauarchitektur alle Ehre macht: Ein grauer Betonklotz, direkt an einer Kreuzung mit regem Straßenbahnverkehr gelegen. Nur die Mieter entsprechen nicht unbedingt der Zielgruppe, die bei Fernsehreportagen über das DDR-Wohnungsbauprogramm üblicherweise in die Kamera lächelt: In dem Hochhaus an der Fetscherstraße leben „vietnamesische Vertragsarbeiter“, die auf Basis eines Regierungsabkommens zwischen der DDR und der Volksrepublik Vietnam in Dresdner Betrieben eingesetzt bzw. ausgebildet werden.

 

Die meisten sehen entsprechend jung aus; meine Schulfreundin und ich schätzen, dass sie ungefähr in unserem Alter sind: Achtzehn, neunzehn. Manchmal fragen wir uns, wenn wir eine Station später an der Schule aussteigen, wo die wohl abends hingehen. Denn schon dort, fünfhundert Meter vom Wohnheim entfernt, ist selten ein Vietnamese oder eine Vietnamesin zu sehen. Die Fetscherstraßen-Hochhausbewohner kommen im Stadtbild nicht vor. In der Schule sind sie kein Thema. Von den Eltern weiß man irgendwie vage, dass sie vorwiegend in der Textilbranche beschäftigt und von offizieller Seite nicht eben großzügig behandelt werden. Oft schwingt ein gewisses Mitleid mit, wenn man Dresdner im Vorbeifahren in der Straßenbahn über die Vietnamesen spekulieren hört. Meine Schulfreundin behauptet unter strengstem Verschwiegenheitssiegel, ihre Mutter lasse sich in der Greybox (bitte erklären woher der Spitzname kommt) an der Fetscherstraße Westjeans nähen. 

 

Für mich hat es tatsächlich über zwanzig Jahre gedauert, bis sich die Greybox öffnete. Im November 2009 baten die Dokumentartheaterspezialisten Helgard Haug und Daniel Wetzel von Rimini Protokoll drei in Dresden, einen in Berlin und drei in Tschechien lebende Vietnamesen und Vietnamesinnen auf die Kleine Bühne des Staatsschauspiels Dresden – keine drei Kilometer Luftlinie vom Fetscherstraßen-Hochhaus entfernt. Als „Experten des Alltags“ bespiegeln Hung, Son, Thanh und die anderen ihre Lebensgeschichten – vom Vietnamkrieg über die Ankunft in der DDR der 1970er oder 1980er Jahre, bzw. im postsozialistischen Tschechien der Neunziger, bis heute.

 

Die Sache mit den Jeans, klärt Son gleich zu Beginn des Abends auf, stimmt. Nicht ohne bestechende (Selbst-)Ironie berichtet er von den Schlangen, die sich zu besonderen Stoßzeiten – etwa kurz vor Weihnachten – im Wohnheim bildeten und von den inoffiziellen Handelskanälen zu polnischen Kollegen, über die die begehrten Lederschilder besorgt wurden. Son selbst - 1980 als Maschinenbaustudent in die DDR gekommen und heute Betreiber eines Nagelstudios in der Dresdner Neustadt - wohnte zwar nicht im Wohnheim an der Fetscherstraße. Aber er hatte Freunde dort. Genau wie Hung, der zweite Dresdner Vietnamese, der 1979 in Weimar eine Betriebsschlosser-Lehre begann und einige Jahre und Stationen später als „Sprachmittler“ für 200 Vietnamesinnen im VEB Kinderoberbekleidung Freital landete. Vom komödiantischen Naturtalent Hung erfährt man auch, warum man die jungen Vietnames/innen nie in Klubs oder Diskotheken sah und inwiefern sich hinter dem Berufsprofil des Sprachmittlers weit mehr als ein klassischer Dolmetscher-Job verbarg. Zum Beispiel die vergleichsweise häufigen Besuche beim Frauenarzt. „Abtreibung war ein heißes Thema“, erklärt er. Die jungen vietnamesischen Arbeiterinnen waren angehalten, nicht schwanger zu werden. Ein Ausbildungs- oder Studienaufenthalt in der DDR galt als hohe Auszeichnung, die vor allem Kindern von Funktionären, Freiheitskämpfern und Soldaten zuteil wurde. Da enttäuschte man das große Vorbild „Onkel Ho“ nicht durch disziplinlose Hingabe an Genüsse wie Sex und ließ sich selbstredend auch nicht in Diskotheken erwischen! So in etwa lautete die offizielle Linie.

 

Heute ist der Betonklotz an der Fetscherstraße ein ganz normales Wohnhaus; optisch versuchsweise postsozialistisch aufgepeppt, zum Beispiel durch gelbe Fensterläden. Zur Wendezeit 1989/90, als die DDR implodierte, mussten die meisten der damals im Land lebenden 60.000 „Vertragsarbeiter“ ihre Wohnheime verlassen. Und nicht nur das: Da logischerweise auch die Zukunft der Volkseigenen Betriebe in den Sternen stand, verloren sie gleichzeitig ihre Jobs und wurden seitens der Regierung vor die Wahl gestellt, entweder gegen eine Entschädigung von 3.000 DM per Freiflug nach Vietnam zurück zu reisen oder aber zu bleiben – ohne Geld. Der Berliner Vietnamese Loi blieb – und erzählt auf der Bühne von ersten Nachwende-Überlebensversuchen mit illegalem Zigarettenhandel. Die Tabakwaren hatte es im Wohnheim auf Kommission gegeben. Gleich am ersten Tag – nach dem hervorragenden Schnitt von anderthalb verkauften Stangen pro zwanzig Minuten – erwischte ihn ein verdeckter Ermittler.

 

Wegen dieser Geschichte, erzählen die Dresdner Protagonisten Hung, Son und Thanh nach der Vorstellung, wurden sie von einigen Mitgliedern der Dresdner vietnamesischen Community als „Nestbeschmutzer“ beschimpft. „Aber man muss diese Dinge erzählen“, beharren sie. Und zwar vollständig; von der Kündigung und der damit verbundenen Zwangslage bis zur beruflichen Selbständigkeit heute: Hung führt mit seiner Frau in der Neustadt, dem Dresdner Alternativ-, Multikulti- und Studentenbezirk, einen Kleiderladen mit angeschlossenem Nähservice. Son unterhält wenige Meter weiter – ebenfalls von ihm und seiner Frau betrieben – ein Nagelstudio. Und Thanh arbeitet als freie Übersetzerin, vor allem am Gericht.

 

Helgard Haugs und Daniel Wetzels Inszenierung beschränkt sich aber nicht darauf, vietnamesischstämmige Alltagsexperten aus ihrem Leben erzählen zu lassen. Sondern wie

immer geht es bei Rimini Protokoll um komplexe, übergeordnete gesellschaftliche Zusammenhänge, die durch die verschiedenen Experten gleichsam personifiziert und multiperspektivisch bespiegelt werden. Die Dresdner Inszenierung heißt „Vùng biên giói“, auf deutsch: „Grenzgebiet“. Und der Titel bezieht sich nicht nur auf die Grenze zwischen Nord- und Südvietnam oder auf die tschechisch-deutsche Grenzregion, in der es einen großen vietnamesischen Markt gibt und wo die drei jüngsten Vietnamesinnen aus der Rimini-Produktion gelebt haben. Sondern das „Grenzgebiet“ streift auch die Demarkationslinie zwischen der ersten und der zweiten, zwischen der Kriegs- und der Nachkriegsgeneration. Während die in den 1960er Jahren geborenen Alltagsexperten von traumatischen Kriegserlebnissen berichten, offenbaren die jüngeren, die in den späten Achtzigern zur Welt kamen, in perfektem Deutsch historische Wissenslücken. „Da ich keine Ahnung hatte, was da genau geschehen war, habe ich das im Internet gegoogelt“, erzählt zum Beispiel die 21-jährige Studentin Trang, die in der Schule in die Bredouille kam, als sie ein Referat zum Vietnamkrieg halten sollte. Die vielleicht wichtigste Grenze aber, die Rimini Protokoll in „Vùng biên giói“ behandelt, ist die ideologische Grenze zwischen dem Osten und dem Westen zur Zeit des Kalten Krieges. Mit dieser Grenze hat vor allem die Übersetzerin Thanh einschneidende Erfahrungen gemacht.

 

Thanh empfängt mich zum Frühstück in ihrer Wohnung in der Neustadt. Hung und Son, die beiden anderen Dresdner Experten des Stücks, wohnen und arbeiten nur einen Steinwurf entfernt. Alle drei sind Nachbarn, Freunde – und eher zufällig in das Theaterprojekt „reingerutscht“. Nicht im Traum jedenfalls hatten sie sich vorgestellt, je als Darsteller ihrer selbst auf einer Theaterbühne zu stehen. „Ich dachte, sie brauchen nur Informationen“, sagt Thanh und lacht. Sie hat Haug und Wetzel „über tausend Ecken“ – namentlich den Dresdner Ausländerrat – kennen gelernt und anschließend Son und Hung vom Projekt erzählt. Doch Zufall hin oder her: Das Bedürfnis, die Fetscherstraßen-Greybox zu öffnen, schien durchaus vorhanden: Nicht nur die Dresdner, die früher dort vorbeigefahren sind, haben im Dresdner Staatsschauspiel vielleicht erstmals etwas von den Lebensgeschichten der „vietnamesischen Vertragsarbeiter“ erfahren, sondern auch die Beteiligten untereinander. „Ich kannte Hungs und Sons Geschichte genauso wenig wie sie meine“, sagt Thanh, die hundertprozentig in der (Dresdner) Gegenwart verankert scheint. „Auch unsere Kinder, die natürlich zur Premiere kamen, haben das zu Hause noch nie gehört.“

 

Dabei ist Thanhs Geschichte derart spektakulär und außergewöhnlich, dass sie mühelos ganz allein einen Theaterabend füllen könnte. Die studierte Germanistin ist möglicherweise der einzige Mensch, der drei Jahre lang illegal – ohne Papiere – in der DDR lebte. In einer Diktatur, die ihre Bevölkerung bekanntermaßen ziemlich flächendeckend überwachte. All die Verschlingungen, Fluchtversuche oder Vorladungen zu Behörden wie der DDR-Staatssicherheit sind in Rimini Protokolls Grenzgebiets-Abend definitiv nicht zu bewältigen. Beim dreistündigen Frühstück erzählt Thanh ein paar Details, die auf der Bühne dem Ökonomieprinzip zum Opfer fallen mussten.

 

Die Tochter eines Hochschullehrers und einer Ärztin hatte bereits vier Jahre lang erfolgreich in der DDR studiert und war zur Promotion vorgesehen, als ihr Doktorvater ihr plötzlich eröffnete, es täte ihm sehr leid, aber ihr Heimatland habe kein Interesse mehr an ihrer Ausbildung in der DDR und beordere sie zurück; er könne da gar nichts machen. Der Flug war praktisch schon gebucht. Heute, erzählt Thanh, wisse sie, dass ihr Vater damals in Ungnade gefallen war, weil er in China studiert hatte: Nach einem ideologischen Kurswechsel infolge politischer Spannungen akzeptierte die Volksrepublik Vietnam von heute auf morgen nur noch Funktionäre, die in der Sowjetunion ausgebildet worden waren. Thanh tauchte unter, versteckte sich bei Freunden, versuchte mehrfach, über Tschechien – damals die CSSR – oder Ungarn in den Westen zu flüchten, und nutzte, wenn die Grenzposten sie an der Grenze aus dem Zug holten, weidlich die Tatsache aus, dass sich die Behörden mit den vietnamesischen „Personaldokumenten“ weit weniger gut auskannten als mit denen der DDR-Bürger. Außerdem, sagt Thanh, hätten die DDR-Offiziellen gegenüber den handverlesenen Gaststudenten von Onkel Hos Gnaden keinerlei Argwohn gehegt. Andernfalls wäre Thanh damals mit Sicherheit verhaftet worden.

 

Später gewährte ihr ein Arzt des Dresdner Diakonissenkrankenhauses Kirchenasyl. Da sie das Grundstück nicht oft verlassen konnte, arbeitete sie im Gemeindegarten und fühlte sich – wiewohl durch und durch atheistisch – innerlich verpflichtet, an religiösen Veranstaltungen teilzunehmen, zumal die Gemeindemitglieder ihr großzügig Geld zusteckten. „Als das erste Weihnachten, an dem ich mich nicht bewegen durfte, näher rückte, wurde ich so depressiv, dass ich dringend etwas unternehmen musste“, erinnert sich Thanh mit erstaunlicher Sachlichkeit. Sie meldete sich für einen Abendkurs in Porträtmalerei an der Dresdner Kunsthochschule an und kam über die Ehefrau des Kunstprofessors – eine Lehrerin für Deutsch als Fremdsprache – zu einem neuen Job: Die DDR suchte damals händeringend nach kompetenten Lehrkräften für junge vietnamesische Fremdarbeiter/innen, die gerade im Jahr 1987 in einer großen Welle in die DDR kamen und vertragsgemäß 200 Stunden Deutschunterricht bekommen mussten, bevor sie in den Betrieben eingesetzt werden durften. Denn es mangelte der sozialistischen Planwirtschaft derart an Lehrkräften, dass dort lauter Chemie- oder Sportlehrer auf Honorarbasis am Werke waren. Etwas Besseres als eine in Hanoi geborene Germanistin konnte den Verantwortlichen gar nicht passieren! Also vermittelte die Professorenfrau Thanh an die Betriebsakademie des VEB Herrenmode, deren Seminarchef sie mit offenen Armen empfing – und den Worten: „Wir wissen, dass Sie keine Papiere haben, aber wir brauchen Sie. Deshalb muss auch keiner wissen, dass Sie bei uns arbeiten.“

 

Karl-Heinz Kathert, der vierte Dresdner Alltagsexperte aus „Vùng biên giói“, wollte das gar nicht glauben, als er während der Proben zu „Vùng biên giói“ davon erfuhr. Und Kathert ist derjenige, der es eigentlich tatsächlich wissen müsste: Er war von 1987 bis Anfang 1991 als „Hauptbetreuer“ für die vietnamesischen Werktätigen des VEB Herrenmode in Dresden zuständig. Kathert, erzählt Thanh lachend, habe sämtliche Akten des VEB Herrenmode zu Hause aufbewahrt. „Am zweiten Probentag kam er zu mir und sagte: Ich habe Sie in meinen Akten gar nicht gefunden. Darauf ich: Können Sie auch nicht, ich komme nirgendwo vor!“

Dramatischer als Karl-Heinz Kathert und Thanh durch ihre quasi gegenläufigen Biografien kann man die ideologische Grenzgeschichte von „Vùng biên giói“ kaum auf den Punkt bringen. Während Thanh notgedrungen immer die Schlupflöcher aufgespürt, den ostdeutschen gegen den vietnamesischen Sicherheitsdienst ausgespielt, sich mit einer geschickten Schweyk-Strategie Anwerbungsversuchen durch die Stasi widersetzt und immer nach den maroden Stellen im System gesucht hat, personifiziert Kathert in gewisser Weise den Systemschutz schlechthin: 1929 in Magdeburg geboren, wurde er erst Dreher, dann Schutz- und schließlich Grenzpolizist; auch an der deutsch-deutschen Grenze. Er hatte eine komplette hauptberufliche Militärlaufbahn absolviert, bevor er Hauptbetreuer der Vietnamesen wurde.

 

„Sie sind ja pünktlich wie ein guter Soldat“, begrüßt Kathert mich strahlend, als ich Schlag vier zum Nachmittagskaffee an seiner Wohnungstür in Dresden-Gorbitz klingele – in einem Neubaugebiet wie von der DDR-Nomenklatura erträumt. Kathert bittet mich ins Wohnzimmer. Er deutet auf zwei Wandbilder, die ihm vietnamesische Vertragsarbeiter geschenkt haben – eines zum 50., eines zum 80. Geburtstag. Auch ansonsten ist er bestens vorbereitet: Tatsächlich liegen zwischen dem Kaffeegedeck, das seine Frau aufgetragen hat, diverse Aktenordner. „Ich habe hier die ganzen Originaldokumente meines Wirkens“, erklärt Kathert und erzählt, wie er vom Oberst der Nationalen Volksarmee zum Hauptbetreuer für etwa 1.000 in Dresden arbeitende Vietnamesen wurde. „Laut den damaligen kaderpolitischen Bestimmungen betrug das Höchstalter für meinen Dienstgrad 55 Lebensjahre.“ Also noch zehn Jahre bis zur Rente. „Und da ich bei meinem Wirken als Hochschullehrer an der Dresdner Militärakademie `Friedrich Engels` schon einmal den ehrenvollen Auftrag gehabt hatte, junge vietnamesische Offiziere mit auszubilden, kannte ich die Mentalität, die Probleme und alles, was mit Vietnam zusammenhing, natürlich aus erster Hand.“

 

Wahrscheinlich müsste man Karl-Heinz-Kathert gar keine Fragen stellen. Kaum hat man ein Stichwort eingeworfen, redet er sofort von allein weiter; spult die ganze Geschichte von A bis Z mit sämtlichen Nebensträngen und Verästelungen ab. Als Kathert die ersten „Vertragsarbeiter“ am Flughafen Berlin-Schönefeld persönlich in Empfang nahm – „in der Hauptsache junge Mädchen, die gerade mit der Schule fertig waren“ – befand er, dass sein alter und sein neuer Job eine Menge miteinander zu tun hätten: „Auch bei der Armee werden junge Menschen einberufen als Wehrpflichtige, und dann musst du darauf Einfluss nehmen, dass daraus mal ordentlich ausgebildete Soldaten werden. Und da dachte ich mir: Ach ja, das ist klasse, das wird mir sicher Freude machen!“

 

Der Rückweg – oder, wie Kathert sagt, der „Rückzug“ – der Arbeiter/innen, der er bereits drei Jahre später organisieren musste, weil die DDR aufhörte zu existieren, sollte seine größte Herausforderung werden. „Ich als Militärkader weiß“, erinnert er sich auf der Bühne, „dass der Rückzug die komplizierteste militärische Bewegung ist. Angriff – Verteidigung – Bewegung – Marsch, das ist ein Kinderspiel dagegen.“ Kathert ist in seinem Element, wenn er am Kaffeetisch von den Listen erzählt, in denen festgehalten wurde, wer sich für die 3.000 DM und den freien Rückflug entscheiden hatte und wer zum Bleiben. Oder wenn er die logistische Herausforderung Revue passieren lässt, für über 400 Vietnamesen Kisten von jeweils einem Kubikmeter zu besorgen, die ihnen zusätzlich zum Normalgepäck bei der Ausreise zustanden. Kaum war das bewältigt, kam die nächste Herausforderung: „Auflösung der Wohnheime! Das war auch eine Riesenaktion, die ich in Zustimmung mit den Organen der Stadt vollziehen musste!“    

 

Kathert scheint jede Jahreszahl, jede Aktennotiz, jede Gesetzesnovelle aus dem Kopf zu wissen – anders als Thanh, Son und Hung lebt er offenbar sehr in bzw. von der Vergangenheit. Und anders als die drei vietnamesischen Alltagsexperten ist Karl-Heinz Kathert auch nicht in das Theaterprojekt „reingerutscht“. Er wurde Haug und Wetzel „von Vietnamesen, die in meiner Verantwortung hier in der DDR gewirkt haben“, empfohlen. Und keine Frage: Karl-Heinz Kathert – bis heute aktives Mitglied der Partei „Die Linke“ – hat mindestens ein klares Sendungsbewusstsein, wenn nicht sogar eine Botschaft. Sie lautet: Wider den „Zeitgeist“. Der „Zeitgeist“, ruft Kathert an seinem Wohnzimmertisch, „der dadurch geprägt ist, alles zu verdammen, was mit der DDR und dem Sozialismus zusammenhängt, findet ja seine Zuspitzung darin, dass besonders das Ministerium für Staatssicherheit und die Grenztruppen der DDR im Visier liegen. Als wären das die Wesen der DDR gewesen, die sich so verhalten haben, dass nur geschossen wurde, dass nur gespitzelt wurde und weiß der Teufel was!“ Aus diesen Erwägungen heraus, sagt Kathert, habe er sich entschlossen, an dem Rimini-Projekt mitzuwirken, um seinen Teil zur „Festigung und Verbreitung historischer Wahrheiten“ zu leisten.

 

Aus dem gleichen Grund schreibe er auch seine Autobiografie. Er öffnet einen Ordner und zieht ein bereits fix und fertiges Inhaltverzeichnis hervor. Nur über den Titel ist er sich noch nicht im Klaren. Entweder „Treu gedient“ oder „So war es wirklich“. Aber sitzen nicht ab und zu Menschen im Publikum, die meinen, so war es doch nicht? Zumindest nicht für sie? Dass an der deutsch-deutschen Grenze Menschen erschossen wurden, ist ja nicht von der Hand zu weisen. Ein Techniker des Dresdner Staatsschauspiels zum Beispiel, erzählt Kathert, sei über seinen Auftritt weniger begeistert gewesen. „Na, auf welcher Seite der Barrikade haben Sie denn als Oberst damals gestanden?“, habe er ihn nach der Premiere angesprochen. Kathert erwiderte, er habe auf gar keiner Barrikade gestanden, weil er ab 1975 als Lehrer an der Militärakademie – also nur mit der Theorie – beschäftigt war. „Da hatte ich keine Gewalt mehr in Form von Befehlen, Anordnungen und Weisungen gegenüber den Grenzsoldaten.“

Thanh hat mit Kathert – auch, wenn das eine Weile gedauert hat – inzwischen ihren „Frieden geschlossen“. Zwar zucke sie nach wie vor jedes Mal zusammen, wenn er an einer Stelle der Inszenierung „Passkontrolle“ rufe. Denn das hat sie bei ihren Fluchtversuchen aus der DDR öfter gehört, als ihr lieb war. „Aber irgendwann habe ich ihn als meinen Vater gesehen. Egal, welche Sprache er benutzt und wie steif er ist: Er ist authentisch, kein Opportunist und vertritt bis zum heutigen Tag seine Sache;. Und irgendwo ist mir das dann auch wieder sympathisch.“

Umgekehrt hält Kathert Thanhs Geschichte aufrichtig für „einen tragischen Fall“ – der „politischen Situation geschuldet“. „Was sollte sie denn machen?“, fragt Kathert rhetorisch. „Da hat sie diese Chance genutzt; das nehme ich ihr nicht übel.“ 

 

„Vùng biên giói“ hat die Türen der Greybox an der Dresdner Fetscherstraße aus verschiedenen Perspektiven geöffnet. Die Sichtachsen führen erstaunlich weit, nicht nur Richtung Neustadt oder Linkspartei.