Materialbox

Vùng Biên Giói

von Rimini Protokoll

Home

previous
deczvn

Seite empfehlen

Schmetterlingsflügel-Effekte

Von Michal Nekorjak und Ondřej Hofírek

Vor einiger Zeit bekannte ein Universitätsprofessor in einem informellen Gespräch, dass er sich gerne qualitativ hochwertige und teurere  Schuhe kaufe, dass er die Socken aber lieber beim Vietnamesen hole. Einerseits, weil sie dort billig sind – und die Socken meistens keiner sieht –, aber auch weil er die Vietnamesen mag. Anerkennend verfolgt er, wie diese Unternehmer – besonders in den Kleinstädten – in die steinernen Geschäfte in den Zentren rings um die Marktplätze Einzug halten. Und dass ihre Kinder einen guten Ruf haben, weil sie in der Schule so erfolgreich sind.

Diese persönliche Meinung zeigt eine allgemein verbreitete Vorstellung, wer die Vietnamesen sind und was sie hierzulande tun. Es gibt mehrere, typische Bilder: Sie sind Händler, manche verhältnismäßig erfolgreich, die von ihnen verkaufte Ware ist eher billig- und manchmal qualitativ nicht besonders hochwertig. Sie sprechen schlecht Tschechisch, was manchmal frustrierend sein kann- und andernorts auch wieder Gegenstand geschmackloser Witze. Manche haben Kinder, die – zumindest ihren Lehrerinnen und tschechischen Journalisten zufolge – sehr gute Noten haben. Immer mehr Tschechen können, wenn ihnen abends etwas zum Kochen fehlt, um die Ecke gehen, wo ein kleiner Laden ist, der bis acht Uhr abends offen hat. Aber manche Vietnamesen zahlen keine richtigen Steuern. Das ahnen wir, weil wir am Stand nicht immer einen Kassenbon bekommen und auch, weil es im Fernsehen gesagt wird, wo außerdem gezeigt wird, wie sie prestigeträchtige Marken fälschen werden; die Marken, die wir so sehr wollen. Außerdem sagt man ihnen noch nach, dass sie eher am Rande der Gesellschaft leben und für sich bleiben; sie sind verdächtig verschlossen und hielten wohl sehr zusammen.

Auf der anderen Seite wird ihnen auch eine gewisse Anerkennung zuteil- Fleiß wird allgemein sehr geschätzt. Ihr Fleiß drückt sich beispielsweise in den langen Öffnungszeiten aus, im Erfolg, den diese Unternehmer teilweise haben, aber auch in den besagten guten Schulnoten ihrer Kinder. Es kommt vor, dass diese Bewertung manchmal mit dem angeblich geringeren Fleiß der Tschechen kontrastiert wird (»Wer würde das sonst machen«). Letztendlich ist es auch für die Vietnamesen selbst wichtig, für die der Fleiß, beziehungsweise der Ruf fleißig zu sein, eine Quelle der Selbstachtung ist. Das ist besonders in einem Land von Bedeutung, in dem Ausländer von der Mehrheit der Bewohner immer noch scheel angeschaut werden. Dies zeigten wiederholte Umfragen des Zentrums für die Erforschung der Öffentlichen Meinung (Centrum pro výzkum veřejného mínění), das die Haltung der Öffentlichkeit gegenüber ausgewählten Gruppen von Ausländern immer wieder untersucht. Dabei muss man aber sagen, dass die Vietnamesen im Vergleich zu anderen Gruppen nicht schlecht dastehen. Beziehungsweise, dass die Tschechen kaum jemanden mögen, und dass die Vietnamesen besser dran sind  als etwa Menschen aus den Ländern der ehemaligen UdSSR, von den tschechischen Roma ganz zu schweigen.

Kurz, die Vietnamesen haben in Tschechien einen schwierigen Ruf, der auch dadurch kompliziert wird, dass wir sie ein bisschen exotisch finden. Es ist eine »hoffnungsvolle Minderheit«, sie ist für uns aber unergründlich, weil zu weit weg: räumlich und angeblich auch kulturell. Versuchen wir, dieses Exotische ein bisschen dadurch abzuschleifen, dass wir die Vietnamesen als Gruppe zeigen, die hier vor einem halben Jahrhundert aufgetaucht ist; und versuchen wir, ihre relative Geschlossenheit und Selbstgenügsamkeit als etwas zu zeigen, was sich in direkter Abhängigkeit vom hiesigen Umfeld herausbildet, also als etwas, was eher eine unbeabsichtigte Folge ist als eine geplante Strategie.

Der Krieg im Dschungel und die Erfüllung des Fünfjahresplans

Wir haben uns noch nicht so recht daran gewöhnt, die Vietnamesen als »traditionelle« Minderheit anzusehen. Es handelt sich zwar nicht um eine Gruppe, die seit Jahrhunderten  in Tschechien ansässig ist, wie zum Beispiel die Deutschen, die Juden und die Roma, aber manchmal vergessen wir, dass die Anwesenheit der Vietnamesen in Tschechien nichts Neues ist, und dass sie sogar etwas haben, was man ihre eigene Geschichte nennen kann.

Ab der Mitte der 1950er Jahre bis 1989 kamen – im Rahmen von Verträgen über die Entwicklungshilfe für ein vom Krieg betroffenes Land – Vietnamesen in die Tschechoslowakei, konkret geschah dies vor allem auf der Basis des »Vertrags über kulturelle Zusammenarbeit« und des »Vertrags über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit«. Die ersten hundert Vietnamesen trafen im Sommer 1956 in der Tschechoslowakei ein. Es waren Kinder, Kriegswaisen im Alter von 6 bis 13 Jahren, die bis 1959 in einem Kinderheim in Chrastava bei Liberec untergebracht wurden. Einige dieser Kinder blieben später in der ČSSR, studierten und gehören heute zu den führenden Persönlichkeiten unter den vietnamesischen Immigranten in Tschechien. 1967 kamen dann über  2000 weitere Vietnamesen, Arbeiter vor allem, die sich den Lehrlingen, Praktikanten und Studenten anschlossen, die bereits da waren. Anfang 1973 kam eine Regierungsdelegation aus Vietnam nach Prag und handelte die Einreise von weiteren 10.000 bis 12.000 Vietnamesen aus. Dies erforderte  unter anderem die Sicherung von Wohn- und Schulungskapazitäten in ausreichendem Umfang, die bis dato nicht existiert hatten. In den darauf folgenden Jahren (1974, 1979, 1980) wurden dann neue internationale Verträge geschlossen, auf deren Grundlage nach und nach Tausende weitere Lehrlinge, Studenten, Praktikanten und Arbeiter aus Vietnam in die Tschechoslowakei kamen. Während der 80er Jahre war das System der Auswahl von Lehrlingen und Praktikanten im Vergleich zu den vorangegangenen Jahren schon gut organisiert, inklusive tschechischem Sprachunterricht.

Sowohl für die Studenten als auch für die Arbeiter war der Aufenthalt der Vietnamesen in der Tschechoslowakei im Einklang mit der kommunistischen Ideologie organisiert und begrenzt. Die Vietnamesen wurden beobachtet, ihr Aufenthalt hier oblag der Sorge von Organisatoren, die zugleich als Dolmetscher fungierten. Diese hatten einzelne Gruppen von Vietnamesen in ihrer Verantwortung und kümmerten sich um deren Probleme mit der tschechischen Seite. Die Vietnamesen wohnten in Wohnheimen, ihr Ausgang war beschränkt, was auch die Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit der örtlichen Bevölkerung begrenzte. Mit der Zeit gaben jedoch die einzelnen »Runden« untereinander Informationen weiter und sammelten so immer mehr Wissen über das Leben in der ČSSR. In den Jahren 1980 bis 1983 waren bereits etwa 30.000 Vietnamesen hier, von denen etwa zwei Drittel in Arbeiterberufen beschäftigt war. Diese Anzahl wurde nach weiteren internationalen Verträgen schrittweise gesenkt, und 1985 waren noch knapp 20.000 Personen im Land, überwiegend Männer. Die Vietnamesen lernten im Laufe der Zeit das System auszunutzen und die Einwanderung in die ČSSR gegen Bezahlung zu organisieren. Außerdem kauften sie für ihr Erspartes in größerem Umfang Waren an, die sie nach Vietnam schickten- Mopeds, Räder, Nähmaschinen. Die tschechoslowakische Seite wiederum setzte die Vietnamesen für unattraktive Arbeiten ein und nutzte sie als Rettungsanker bei der Erfüllung der »Fünfjahrespläne« aus. Diese Wechselbeziehung lohnte sich für beide Seiten und lässt sich als Tauschhandel von Arbeitskraft gegen Aufwertung des Humankapitals bezeichnen.

»Schmetterlingseffekt« ist bekanntlich ein bildlicher Ausdruck für das Miteinander-Verwobensein der Welt. Dieses Verwobensein ist jedoch in Wirklichkeit viel komplexer, weil es – anders als das Phantasie-Bild vom Schmetterling und dem Sturm, den dieser mit einem Wink seines Flügels am anderen Ende der Welt auslösen kann,  impliziert – nicht auf kausalen Ketten von Ursache und Folgen basiert; es ist unberechenbar. Was die Vietnamesen nach Tschechien brachte hat, waren Ereignisse, die sich zumeist recht weit entfernt abspielten, oft auch weit von Vietnam entfernt, auf »globaler Ebene«, wie man heute sagt. Es war die imperiale Politik Frankreichs, aber letztendlich auch die Niederschrift von Marx' Kapital im 19. Jahrhundert, die Revolution in Russland, der Weltkrieg, der kommunistische Umsturz in der Tschechoslowakei und dann am Ende wieder ein Krieg – diesmal in Vietnam. Die Tschechen trafen genauso ungeplant auf die Vietnamesen wie die Vietnamesen von den Stürmen des Schicksals hierher geweht wurden. Aber nichts geschieht zufällig, denn es war kein Schmetterling, der mit seinen Flügeln schlug und einen Sturm auslöste. Auch Tschechen haben letztendlich mit den Flügeln geschlagen. Zu der Zeit als die ersten Vietnamesen hier herkamen und noch bis 1968, stellte die Tschechoslowakei chemische Stoffe her, die für die Herstellung von Herbiziden gebraucht wurden, die unter der Bezeichnung »Agent Orange« bekannt sind, und an die amerikanischen Armee verkauft wurden. Während die eine Hand half, schickte die andere bis 1968 Giftstoffe nach Vietnam. Nur wenige Dinge bringen die Scheinheiligkeit und den Zynismus des vergangenen Regimes so gut auf den Punkt.

Neue Brücken

Trotz ihres deklarierten Internationalismus war die kommunistische Gesellschaft sehr geschlossen. Man rechnete nicht mit Immigration in größerem Ausmaß, und schon gar nicht mit der Ansiedlung zahlenmäßig größerer Gruppen von Fremden. Sofern dies dennoch geschah, war es, in Anführungsstrichen (nadszaka) gesagt, auf seine Weise eine Heldentat. Der tschechische Staat hatte aus politischen Gründen die Niederlassung von ausgewählten Individuen, und kurz nach dem Krieg auch von Gruppen griechischer und italienischer Kommunisten, organisiert. Die Migration der Vietnamesen war von Staatsseite nur als etwas zeitlich äußerst Begrenztes geplant, gegründet auf die Logik eines rotierenden Systems, innerhalb dessen gezielt Gruppen von Migranten ins Land gebracht wurden. Das Ende der Geschichte kennen wir, und es ist unvermeidlich, ein bekanntes Bonmot zu zitieren: Es gibt nichts Dauerhafteres als eine Einwanderung auf Zeit. Auch andere Länder haben diese Erfahrungen gemacht, Tschechien ist also keine Ausnahme.

Seit den 1990er Jahren wächst die Zahl von Vietnamesen in Tschechien immer weiter an, nach Ukrainern und Slowaken bilden sie die drittgrößte Ausländergruppe. In Tschechien leben heute etwa 60.000 Vietnamesen, so die von tschechischen Behörden registrierte Zahl. 1993, nach der Teilung der Tschechoslowakei, waren es um die 8000 Vietnamesen, was bedeutet, dass sich ihre Zahl innerhalb von siebzehn Jahren fast verachtfacht hat. Diese Zahlen sind sicher interessant, aber man muss darauf hinweisen, dass es sich nur um die Angaben aus amtlichen Statistiken handelt. Das bedeutet, dass unbekannt ist, wie viele weitere Migranten aus Vietnam sich ohne Papiere in Tschechien aufhalten. Bei solchen Schätzungen muss man sich fragen, auf welcher Basis überhaupt gesagt werden kann, dass hier so und so viele illegale Immigranten leben. Besonders nach 2000 wächst die Zahl der Immigranten aus Vietnam noch dynamischer an. Dies ist anhand von drei Umständen zu erklären: 1. Durch die unternehmerischen Erfolge, die weitere Migranten anziehen. 2. Durch die Ankunft eines neuen Typs Immigranten aus Vietnam, die von Arbeitsagenturen hergebracht werden. Auf diese beiden Umstände kommen wir später noch zurück, sehen wir  uns nun den dritten Grund genauer an. Es handelt sich um das, was man »Verdichtung« der sozialen Netze und eine schrittweise Tendenz zum dauerhafteren Aufenthalt in Tschechien nennen könnte.

Als wir eine mangelnde Vorbereitung erwähnt haben, dass die Vietnamesen zu einem Teil der tschechischen Gesellschaft werden könnten, war das eine einseitige Aussage, da dies nicht nur für die Tschechen gilt, sondern auch für die Immigranten selbst. Wir begegnen immer wieder der Vorstellung, dass die Vietnamesen mit einem klaren Plan hier herkämen, der nicht nur Geld verdienen, sondern auch eine dauerhafte Ansiedlung beinhaltet. Betrachten wir die zahlenmäßigen Fakten, die uns zur Verfügung stehen, dann scheint es, als ob dem tatsächlich so sei. Fast sechzig Prozent der Vietnamesen haben in Tschechien bereits den so genannten unbefristeten Aufenthaltsstatus erhalten, der den Migranten gewisse Vorteile bietet, beziehungsweise die minimale Sicherheit, dass sie nicht Jahr für Jahr bei den Ämtern die Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis beantragen müssen. Im Vergleich zu den anderen zahlenmäßig großen Gruppen von Ausländern beantragen die Vietnamese die meisten unbefristeten Aufenthaltsgenehmigungen. Sie sind auch die größte Gruppe, die Aufenthaltsgenehmigungen zum Zweck der Familienzusammenführung erhält.

Wenn wir uns noch anschauen, in welcher Immigranten-Gruppe in Tschechien am meisten Kinder geboren werden, sehen wir, dass in den letzten dreizehn Jahren die Vietnamesen vorn liegen. In diesem Zeitraum kamen über sechstausend Kinder zur Welt, allein im letzten Jahr wurden fast tausend vietnamesische Kinder geboren. Dies zeugt zwar davon, dass die Vietnamesen vorhaben, in Tschechien dauerhaft Wurzeln zu schlagen, aber dennoch wenden wir uns gegen die Vorstellung, dass es sich dabei um die Folge gut durchdachter Lebenspläne handelt.

Nach Dutzenden von Gesprächen, die wir mit Immigranten geführt haben, zeigt sich, dass diese zumindest zu Beginn ihres Aufenthalts normalerweise nicht damit rechnen, sich dauerhaft niederzulassen. Bei vielen Vietnamesen führt weder die Ankunft der Ehefrau und der Kinder noch die Geburt eines Kindes zur Änderung des ursprünglichen Planes, nach Tschechien zu kommen und »nur etwas Geld zu machen und dann zurückzugehen." Allmählich, indem sie länger hier leben als dort, je nachdem, wie sie sich beim Geld verdienen engagieren, und wie viel ihnen an dem Geschäft liegt, das sie aufgebaut haben; und ob wegen der Entfernung nach einiger Zeit die Ehefrau nachkommt oder wegen Vereinsamung eine neue Familie gegründet wird, entfernt es den Einzelnen von der alten Heimat und führt zur Erosion der ursprünglichen Pläne. Außerdem spielt eine Rolle, wie die Geschäfte laufen, oder aber auch nicht laufen, wie sie sich an das hiesige Klima, aber auch an den Lebensrhythmus gewöhnt haben.

Die Zahl der Menschen mit unbefristetem Aufenthaltsstatus wächst allmählich, Neuankömmlinge gesellen sich dazu. Alle Personen, mit denen wir gesprochen haben, beschreiben ihre Anreise als etwas, was in Kooperation mit Verwandten oder Bekannten verlaufen ist. Denn die Einreise nach Tschechien zu organisieren und in einem fremden Land ein Geschäft aufzubauen, ist eine zu schwierige Aufgabe für einen einzelnen. Diese Netzwerke, die eine Brücke zwischen Tschechien und Vietnam bilden, werden immer »dichter«. Die wechselseitigen Bindungen nehmen zu, wodurch, bildlich gesprochen, die Migrations-Brücke zwischen beiden Ländern sich verfestigt und leichter zu überschreiten ist. Und das nicht nur »hierher«, sondern auch »dorthin«. Die sozialen Netze der Vietnamesen schöpfen ihre Kraft aber nicht aus sich selbst. Ihr Nährboden ist die ökonomische Sphäre, denn ohne das, was die Vietnamesen sich aufgebaut haben, wären diese Netze nicht lebensfähig.

»Vietkonomie«

Vor allem in den Vereinigten Staaten beobachten Soziologen und Anthropologen schon lange Zeit den vergleichsweise interessanten Fakt, dass einige ethnische Gruppen einen höheren Anteil von Unternehmern besitzen als die Mehrheitsbevölkerung. Die ökonomisch aktiven Vietnamesen in Tschechien sind zu 90 Prozent im Besitz eines Gewerbescheins und es gilt allgemein, dass die hiesigen Ausländer häufiger selbstständig tätig sind als die Tschechen. Die Vietnamesen liegen aber deutlich in Führung, denn sie stellen zwölf Prozent der Immigranten, haben aber einen Anteil von vollen 40 Prozent an der Zahl von unternehmerisch tätigen Ausländern. Das ist an und für sich interessant, noch interessanter ist es aber, wenn sich die gegebene ethnische Gruppe auch einen eigenen Raum im Rahmen des Marktes schafft, eine so genannte Nische, die von einem Gespinst ethnischer sozialer Netze durchwoben ist. Diese Netzwerke erleichtern den Mitgliedern der Gruppe den Zugang zu unternehmerischen Gelegenheiten und zu Arbeit, was bei benachteiligten Gruppen fast der einzige Weg ist, um zu einem Einkommen zu kommen, da sie außerhalb dieser Nische und Netzwerke aus vielerlei Gründen nur erschwert eine Betätigung finden können. So entsteht ein Milieu, das dank der gemeinsamen Sprache und Kultur einfach vertrauter und freundlicher ist, als die umgebende Mehrheitsgesellschaft (Dies alles ist hier mit einer großen Vereinfachung beschrieben, die uns hoffentlich verziehen wird). Als Arbeitstitel für das ökonomische Feld, das die Vietnamesen besetzt beziehungsweise geschaffen haben und von mit den erwähnten, ethnischen Netzwerken durchzogen ist, schlagen wir die Bezeichnung  »Vietkonomie« vor.

Wesentliche Umstände haben am Anfang dazu geführt, dass für das Verbleiben der Vietnamesen in Tschechien gerade das Unternehmertum bestimmend wurde. Als die tschechoslowakische Regierung im Jahre 1990 einseitig die internationalen Verträge mit Vietnam aufkündigte, waren etwa 13.000 Vietnamesen im Land. Diese Menschen verloren die legale Basis für ihren Aufenthalt in der Tschechischen Republik und waren also gezwungen, eine Lösung für ihre Situation zu suchen; etwas, was sie tun konnten. Mehrere Varianten standen zur Auswahl: Sie konnten nach Vietnam zurückkehren, oder versuchen, den Angestelltenstatus in einem tschechischen Unternehmen zu behalten, oder eine Aufenthaltsgenehmigung auf der Basis der Gründung eines selbstständigen Unternehmens beantragen. Nur sehr wenigen von ihnen gelang es, wenigstens für kurze Zeit ihren Angestelltenstatus zu halten. Die tschechischen Unternehmen verloren viele ihrer traditionellen Absatzmärkte und waren zugleich einer unbarmherzigen Konkurrenz aus dem Ausland ausgesetzt. 

Die Transformations-Ökonomie brachte als neue Erscheinung die Arbeitslosigkeit mit sich, und die Vietnamesen gehörten zu den ersten, die entlassen wurden. Die unternehmerischen Strategien der Vietnamesen bildeten sich aber nicht auf einmal und im völlig luftleeren Raum heraus. Schon vor 1989 hatte ein Teil von ihnen begonnen, mit der hiesigen Bevölkerung informell Handel zu treiben; in den Wohnheimen waren sogar kleine Nähereien entstanden, in denen schon damals »Marken«-Kleidung genäht wurde, vor allem Jeans. Nach 1989 wussten die Vietnamesen genau, was die hiesigen Einwohner wollten. Ein ursprünglich informeller Sektor wurde also offiziell und expandierte. Die Vietnamesen befanden sich in dieser Zeit in einer Ausnahmesituation, denn sie waren, auch aufgrund ihrer Geschäftsbeziehungen mit chinesischen Händlern, in der Lage, die hiesige Nachfrage der Menschen zu decken, die sich teure, »westliche« Ware nicht in großem Stil leisten konnten. Auch begann sich die Kultur des Handels erst allmählich zu entwickeln; der Verkauf an Ständen unter freiem Himmel wurde von breiten Bevölkerungsschichten angenommen, und nicht nur Vietnamesen, sondern auch Tschechen, verkauften dort Waren.

Das Wachstum der »Vietkonomie« weist noch einen wichtigen und zugleich interessanten Aspekt auf. In der kommunistischen Ära waren Vietnamesen auch in den umliegenden, sozialistischen Ländern vertreten, und auch dort widmeten sich einige von ihnen neben ihrer offiziellen Arbeit oder ihrem Studium dem Kleinhandel. Im Unterschied zu Tschechien war die Situation dort aber nach den politischen Veränderungen weniger günstig, und deshalb kamen einige von ihnen gezielt hierher. Das betrifft vor allem Vietnamesen aus der ehemaligen DDR, wo die Regierung sogar ihre Ausreise organisierte. Ihr Eintreffen in Tschechien beeinflusste dann auch die spezifische, räumliche Verteilung der Vietnamesen, denn ein Teil von ihnen ließ sich im Grenzgebiet nieder und spezialisierte sich auf deutschsprachige Kundschaft. Die 1990er Jahre waren das goldene Zeitalter der Marktstände, welches das schrittweise Wachstum der »Vietkonomie« und die Ankunft weiterer Immigranten ermöglichte. Es war nicht nur aufgrund der bereits entwickelten Infrastruktur und bewährter Strategien einfach neue Läden zu gründen, sondern vietnamesisch Unternehmer schufen auch selbst Arbeitsplätze innerhalb der »Vietkonomie«. 

Bereits gegen Ende der 1990er Jahre begannen sich die Möglichkeiten des Verkaufs von Kleidungsstücken und Kleinelektronik an Ständen zu erschöpfen. Die Konkurrenz wuchs, unter den Vietnamesen selbst, aber auch von Seiten großer Ketten, die sehr ähnliche Waren nach Tschechien einführten. Nach dem Beitritt Tschechiens zur Europäischen Union wurden noch die zollfreien Zonen an der Grenze aufgehoben, die die deutschsprachigen Kunden angelockt hatten. Folge dieser Umstände (auch anderer, wir haben nicht alle aufgezählt) war aber kein Niedergang der »Vietkonomie«, sondern im Gegenteil waren die Unternehmer durch diesen Druck gezwungen, neue Strategien zu suchen. So kam und kommt es zu einer wesentlichen Differenzierung ihrer unternehmerischen Tätigkeit: Die Vietnamesen sind längst nicht mehr nur Händler mit billigen Kleidungstücken. Es sind Bistros entstanden, Nagelstudios, Spätkauf-Läden, und so weiter.

Die letzte sichtbare Veränderung trat in der kurzen Zeit zwischen 2007 und 2009 auf, als ein völlig neues Segment der »Vietkonomie« schnell expandierte und mit dem Beginn der globalen Rezession/ Krise wieder schrumpfte. Dieses Segment entstand in Folge einer neuen Gesetzgebung, die das Funktionieren der Arbeitsagenturen korrigierte, die Angestellte für Unternehmen rekrutierten. So konnte den gierigen Fließbändern (zumeist ausländischer) Unternehmen endlich die gewünschte Anzahl von Arbeitern zugeführt werden, die aus tschechischen Quellen einfach nicht zur Disposition standen. Spontan entstand eine Reihe von neuen Agenturen, darunter auch solche, die von tschechischen Vietnamesen (mit)organisiert waren. In kurzer Zeit wuchs so die Zahl von Vietnamesen in Angestelltenverhältnissen auf fast 20.000 an, um dann im Jahre 2009 wieder jäh auf knapp 4.000 zu fallen. Als diese große Zahl von Menschen ihre Arbeit verlor, die sicher nicht mit der Aufhebung ihrer Arbeitsverträge innerhalb von einem oder zwei Jahren gerechnet hatten, war die Erschütterung groß, auch weil ein wesentlicher Teil der über Agenturen rekrutierten Angestellten aus Vietnam unvorstellbar verschuldet wäre. Die Organisation der transnationalen Arbeitsmigration um den Arbeitskräftebedarf der transnationalen Konzerne zu decken, war selbst zu einem Business geworden. Auf Kosten der Migranten konnte man gutes Geld damit machen, da viele mit der Aussicht auf eine ordentliche Bezahlung bereit waren, für die Reise nach Tschechien diverse Gebühren in Höhe von 5000 bis 13.000  Dollar zu bezahlen.

Das funktionierende, unternehmerische Segment der »Vietkonomie« war in der Lage, einen Teil der entlassenen Migranten zu absorbieren, aber wir erlauben uns nicht, zu behaupten, dass wir wüssten, wo eigentlich jene über 15.000 entlassenen Vietnamesen hingegangen seien; wie viele von ihnen nach Hause zurückgekehrt sind, wie viele in der Schattenwirtschaft gelandet sind, und wie viele eine neue Anstellung gefunden haben oder Unternehmer geworden sind. Die Daten des Amtes für Statistik deuten aber an, dass nach dem jähen Anwachsen der Immigrantenzahl 2007 die Anzahl der in Tschechien lebenden Vietnamesen stabil ist, und dass es innerhalb der Kategorie der Angestellten zu einer Verschiebung hin zu einem Anwachsen der Unternehmerzahl gekommen ist. Das weist also darauf hin, dass die Entlassenen entweder abwarten, oder wirklich ein neues Betätigungsfeld innerhalb der Strukturen der alten, selbstständigen »Vietkonomie« gefunden haben (oder beides). Das würde ein weiteres Mal ihre Vitalität beweisen, ebenso wie die Tatsache, dass ihr positiver Beitrag vielleicht immer noch nicht in ausreichendem Maße gewürdigt wird, da die »Vietkonomie« im öffentlichen Diskurs vor allem als eine verdächtig geschlossene Nischenwirtschaft dargestellt wird, die an der Grenze zur grauen Ökonomie funktioniert.

Aus diesem Text sollte deutlich geworden sein, dass die ökonomischen Strategien der Vietnamesen eng mit dem hiesigen Umfeld, der Tschechischen Republik, verbunden sind. Obwohl auch unternehmerische Aktivitäten existieren, die sich an die Vietnamesen selbst richten (Übersetzungsdienste, Logistik und ähnliches), ist die Zielgruppe der Mehrzahl ihrer Aktivitäten die tschechische Bevölkerung. Und in diesem Sinne ist es für die Vietnamesen wichtig, dass sie sich im hiesigen Milieu orientieren können, sonst würden ihre Geschäftsstrategien wohl kaum bestehen können. Betrachtet man die Integration von Vietnamesen, die hier letztendlich den Rest ihres Lebens oder wenigstens eine bedeutende Zeit verbringen, erweist sich die verschwindend kleine staatsbürgerliche Integration nach und nach als die wesentliche Frage. Denn trotz einiger Risiken und Kontroversen der »Vietkonomie« ist insgesamt ersichtlich, dass die Frage der ökonomischen Integration kein fatales Problem darstellt, was wiederum gar nicht so selbstverständlich ist, wenn wir die Probleme betrachten, die mit der Arbeitslosigkeit mancher Immigrantengruppen in anderen Ländern Europas verbunden sind. Trotz der hohen Anzahl von unbefristeten Aufenthaltsgenehmigungen erhalten nur selten Vietnamesen die tschechische Staatsbürgerschaft. Es ist nicht ganz deutlich, ob dieses langsame Tempo eher den Unwillen von Seiten des Staates ausdrückt, oder ob es den Vietnamesen selbst zuzuschreiben ist, die vielleicht nicht anerkennen, dass die geplante Kurzfristigkeit ihres Aufenthalts sich langsam in Dauer verwandelt.

Michal Nekorjak hat an der Fakultät für Sozialstudien [Fakulta sociálních studií Masarykové univerzity] in Brno studiert, wo er im Fachbereich für Soziologie vor kurzem seine Doktorarbeit zum Thema der Arbeitsmigration von Ukrainern vorgelegt hat. Derzeit ist er Forschungsmitarbeiter der Fakultät und arbeitet an mehreren Forschungsprojekten zur Migration und Integration ethnischer Gruppen.

Ondřej Hofírek arbeitet als Forscher am Institut für die Erforschung von Reproduktion und Integration der Gesellschaft an der Fakultät für Sozialstudien an der Masaryk-Universität in Brno. Sein Spezialgebiet sind Themen der internationalen Migration, besonders aber die ökonomische Aktivität von Immigranten. Seine wissenschaftliche Erfahrung hat er vor allem im Rahmen quantitativer Untersuchungen zu Ausländern in der Tschechischen Republik gesammelt.

© Übersetzung aus dem Tschechischen Kathrin Janka, 2010.