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Ich spiele Loi

Vor dem Brandenburger Tor im September 1989 © privat

Auf der Bühne, Dresden 2009 © Matthias Horn

Nguyen Van Loi – Rufname sprich »Loi«

wurde am 1. 5. 1955 in Ving Linh in Mittelvietnam geboren. Sein Vater war schwer verwundet aus dem Krieg gegen die Franzosen heimgekehrt. Loi wurde bei der Generalmobilmachung 1972 in die nordvietnamesische Armee eingezogen und war ca. ein Jahr lang Verwalter eines Waffen- und Munitionslagers am Rande des Ho-Chi-Minh-Pfades (VIDEO: "Mein Lager"). Nach Kriegsende Studium der Literaturwissenschaften in Saigon. Konkurrierte 1987 mit vielen Mitbewerbern um einen Arbeitsplatz in der DDR und wurde als Kranfahrer im VEB Transformatorenwerk (Berlin) eingesetzt. Seine Familie lebt noch in Vietnam: Vater, Mutter und Geschwister (ein Bruder, vier Schwestern). Nach 1990 verschiedene Gelegenheitsarbeiten in der Fleischindustrie. Einzige Mitgliedschaft: Kommunistische Partei Vietnams (1976 - 1992). Weiteste Reise: Norwegen und Finnland, aber das Traumreiseziel bleiben die USA: Einmal Cowboy-Hüte einkaufen. Keine Religionszugehörigkeit: »Freisein ist besser ..." Anzahl überquerter Grenzen ohne Pass: zwei.

Auf der Bühne, Dresden 2009 © Matthias Horn

Mit Kollegen im Wohnheim des VEB Transformatorenwerk Berlin (2 v.l. hinten) © privat

Nguyen Van Loi über den Vietnam-Krieg

»Ich wurde 1955 an der Küste in Nghe An geboren worden. Mein Heimatdorf lag am Verkehrsknotenpunkt der drei wichtigsten Straßen Vietnams und wurde deshalb täglich bombardiert. Alles was tagsüber zerstört wurde, musste nachts wieder aufgebaut werden. Ich half mit, die Bombenkrater zu füllen. Wir wurden auch in erster Hilfe ausgebildet. In der Oberstufe war mein Schulweg sehr lange und ich hatte große Angst, weil täglich Flugzeugstaffeln über uns flogen und ich mich mit meinem Fahrrad in den Graben werfen musste – mir wurde immer gesagt ›Wenn du ein Flugzeug sieht, dreh nicht um und fahr weg sondern fahr ihm entgegen und verstecke dich.‹ Immer wenn die Eltern dann von unserem Haus aus die Rauchsäulen der Bomben sahen, dachten sie ich sei tot. Ich wollte nie zur Schule gehen, weil ich Angst vor den Bomben hatte. Aber die Eltern sagten: ›Nach der Schule wirst du doch sowieso Soldat – du musst dich daran gewöhnen.‹ Mit 17 Jahren meldete ich mich freiwillig zum Militär.

In meiner Einheit waren 40 Männer, zwei Drittel davon waren erst siebzehn Jahre alt. Unser Traum war, durch die vier im Süden liegenden Provinzen zu kommen ohne zu sterben. Viele Soldaten waren ohne einen einzigen Einsatz auf dem Weg in den Kampf schon gefallen. Wir wollten die Strecke schaffen, um dem Feind Auge in Auge gegenüber zu stehen, um den Süden zu befreien und das Land zu vereinigen. Wir sind über einen Pfad durch Laos an der nord- südvietnamesischen Grenze vorbei südlich gegangen. Südlich der Grenze war die Front überall und ich war mit zwei weiteren Soldaten an der Versorgungslinie für ein großes Munitionslager zuständig.

Von Kriegsbeginn am 5.8.1964 bis zum Abzug der Amerikaner 1973 aus Vietnam habe ich ungefähr 13.500 Bomben fallen gesehen, jeden Tag fünf oder 4.300 Tage – neun Jahre lang. Ein Jahr berechne ich mit 300 Tagen: an amerikanischen Feiertagen fielen keine Bomben und wir hatten ein paar Tage Ruhe. Wir wussten: Heute leben wir aber morgen sind wir vielleicht schon tot. An jedem Morgen nach dem aufwachen überprüften wir: alles noch gut? Zwei Stunden später sind wir vielleicht schon tot.

Am Tag des Sieges befand ich mich in einem Munitionslager im Dschungel und wusste von nichts. Erst einen Monat später kam eine kleine Soldaten-Gruppe vorbei und sagte: »Weißt du Vietnam und Saigon ist befreit. Habt ihr nicht gemerkt?« und ich sage: »ICH BIN VERGESSEN."

Auszug aus dem Textbuch von Vung Bien Gioi

Nguyen Van Loi über sein Leben nach dem Fall der Mauer

"Als die Mauer fiel, habe ich noch normal im Betrieb gearbeitet. Fünf Tage später versuchte ich über die Grenze zu kommen. Ich bin zu mehreren Grenzübergängen in Berlin gegangen und immer wieder zurückgewiesen worden – alle durften durch, aber zu mir sagten sie: ›Nein, du nicht‹. Schließlich war ich am Grenzübergang Bornholmerstraße und habe mich einfach ganz klein gemacht und in der Menschenmenge durchgeschoben – ich wollte ein paar Tage im Westen bleiben und mir alles anschauen. Am Abend bin ich mit der U-Bahn herum gefahren und irgendwann ausgestiegen um zu schauen wie es dort wohl aussieht . Da sehe ich ein Schild ‚Rosenthaler Platz’ - ich war wieder im Osten gelandet. Dann bin ich nach Hause schlafen gegangen.

In der DDR war ich erst Kranfahrer. 1990 bekam ich meine Kündigung vom VEB Transformatorenwerk. Ich wurde gefragt: entweder 3000 DM und den Flug nach Hause. Oder kein Geld und bleiben. Ich bin geblieben.
1991 wurde ich gekündigt.
1992 war ich Tischler.
Dann arbeitslos.
1993 bekam ich eine Umschulung zum Verkäufer,
1994 war ich Verkäufer bei Kaufhof in Berlin.
1995 arbeitete ich als Kellner in einem Asia-Restaurant,
Kein Umsatz- ich wurde wieder arbeitslos.
1999 wieder Arbeit im Asia-Snack.
Kein Umsatz. Arbeitslos.
2001 war ich Leiharbeiter in der Wurstproduktion.
Mit einem Kollegen habe ich acht Tonnen Bockwurst am Tag produziert –
oder acht Tonnen Bratwurst,
zwei Tonnen Wiener Würste,
1,5 Tonnen Mini-Salami am Tag oder
eine Tonne Partywürstchen am Tag.
Insgesamt habe ich 280 Tonnen Wurst gemacht.
Dann war ich wieder arbeitslos.
Dann Entengrillmeister, mit 400 Enten am Tag.
In drei Jahren habe ich schätzungsweise 60.000 Enten gegrillt.
Dann war ich wieder arbeitslos.

Ich wollte mich unter die Menschen mischen, um das Geld auf der Straße zu verdienen. Ich zog einen Anzug an, nahm einem Aktenkoffer, in den passten genau neun Stangen Zigaretten. Die gab es im Wohnheim - auf Kommission. Ich ging zum S-Bahnhof Buch im Norden von Berlin. Nach 20 Minuten hatte ich eineinhalb Stangen verkauft. Dann kam ein Mann im Anzug und gab mir das Zeichen ›Zwei West‹. Ich bückte mich zum meinen Koffer, reichte ihm die Stangen hoch: › Bitteschön‹ Er nahm sie entgegen und ›Zack! hatte ich an meinem Handgelenk eine Handschelle. Der Mann schloss mich an einen Zaun an und sagt: ›Du bleibst hier, ich muss noch deine Kollegen fangen.
Dann war er weg, der Koffer auch. Ich lehnte mich an den Zaun und rauchte. Das war um 11.30 Uhr. Eine Stunde verging. Es war sehr kalt. Noch eine Stunde verging. Gegen 14 Uhr kamen Vietnamesinnen, die ich vom Wohnheim kannte, vorbei und fragten mich, was ich da machte. Ich musste nichts sagen, ich musste nur meinen Ärmel hochziehen. Sie fragten mich, ob ich was essen will, ich sagte ›Jetzt noch nicht.‹ Eine Stunde verging. Noch eine Stunde verging. Ein Streifenwagen fuhr langsam vorbei. Ich winkte. Die Polizisten kamen zu mir, ich sagte: ›Um 11.30 Uhr hat mich ein Zollbeamter hier festgenommen. Ich warte über vier Stunden. Ich habe Hunger, ich friere, habe keine Zigaretten mehr. Ich bin vergessen.

Die Polizisten wussten nicht, was sie mit mir machen sollten. Eine Polizistin kaufte mir vom Stand in der Nähe eine Bockwurst. Dann telefonierten sie herum. Zehn Minuten später kam ein anderer Streifenwagen, ein Polizist stieg aus, machte mich frei und sagte, ich sollte mitkommen. Auf dem Weg erklärte er mir: ›Der Beamte von heute früh hat seine Schicht beendet und deinen Fall übergeben, aber sein Kollege hat dich vergessen.‹

Auf dem Revier habe ich unterschrieben, dass 7,5 Stangen Zigaretten von mir beschlagnahmt wurden. Mit dem Protokoll wurde ich erstmal entlassen. Das war mein einziges Mal im goldenen Regen.«

Auszug aus dem Textbuch von Vung Bien Gioi

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