Zwei Stunden ferngesteuert

By Katharina Röben

24.10.2013 / www.lesflaneurs.de

Von Außen muss es ein merkwürdiges Schauspiel sein: 50 Menschen mit Kopfhörern, die Zügen hinterher winken, Fremde anstarren und sich auf Kommando die Schuhe binden. Schuld ist die Stimme in ihren Ohren. Sie ist Teil von Rimini Protokolls „Remote Berlin“. Dabei geht es nicht nur um eine simple Stadtführung. Nein, Rimini Protokoll führt uns vor Augen, was wir sonst übersehen, wenn wir blind durch die Stadt eilen.

Alles beginnt beim Hebbel am Ufer. Hier findet die Kopfhörerübergabe statt. Wir lernen Rachel kennen, eine freundliche, elektronische Stimme. Rachel hat kein Gesicht und sagt von sich selbst, sie sei nur programmiert. Trotzdem folgen wir ihr blind, wenn sie uns durch die herbstgrauen Straßen leitet.  Wir werden in Gruppen aufgeteilt. Rachel sagt, wir sind jetzt eine Herde. Also strömen wir als braves Schäfchen mit der Herde in die nächste Postfiliale. Nicht auffallen, sagt Rachel. Diese simple Anweisung bereitet uns Probleme. Wie verhalte ich mich normal? Beobachte ich die anderen oder mich selbst? Wer von den Anwesenden ist Akteur und wer zufälliger Passant? Plötzlich stellen wir alles in Frage.

Stefan Kaegi, einer von dreien in der Regiegruppe Rimini Protokoll, hat sich die Tour erdacht. Sie ist ein bis ins kleinste Detail durchdachtes Erlebnis, bei dem auf die Sekunde jeder Ton und jede Melodie stimmt. Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen Fiktion und Realität. Wir drehen uns um und suchen nach dem Mädchen, das an der Haltestelle lautstark Unwichtigkeiten von sich gibt. Im selben Moment stellen wir fest, dass wir reingelegt wurden. Da ist kein Mädchen. Das sind nur wir.

Nach und nach verlieren wir unsere Skrupel. Wir sind bereit, etwas zu wagen. Das klingt pathetisch, fühlt sich aber so schön nach Freiheit an. Also springen wir um Bäume, zelebrieren eine U-Bahn-Fahrt als Reise in den Untergrund, rennen und tanzen durch die Stadt. Auf den Ohren der Soundtrack, der sonst im Alltag fehlt. Dazu erzählt uns Rachel von Glauben und Gefühlen. Sie zeigt uns, welche Theatralität im Treiben um uns herum steckt. Wir sind das Publikum eines Theaterstückes, das nur darauf wartete, gesehen zu werden. Am Ende der Szene applaudieren wir begeistert – und die Passanten, die gar nicht wussten, dass sie Schauspieler sind, schauen verwirrt. Das bunte Abenteuer verliert an Leichtigkeit, als Rachel sich in Peter verwandelt. Die männliche Stimme scheint ernster, sachlicher. Plötzlich klingen politische Töne an: Er ruft zur Demonstration auf. Wir machen mit, ohne zu wissen, wogegen wir demonstrieren. Irgendwie fühlt sich das falsch und erschreckend vertraut an. Als Peter uns schließlich vor ein Waffengeschäft führt und von Sicherheit und Autorität spricht, verstärkt sich das mulmige Gefühl. Doch keine Zeit zum Zweifeln, es geht weiter.

Berlin ist nicht die erste Stadt, die Rimini Protokoll sich vornimmt. Nach Avignon, Lissabon und Zürich geht es im November nach São Paulo. Auch hierzulande irren Menschen weiterhin mit Kopfhörern durch unbekannte Räume: In Dresden kann man so „10 Aktenkilometer“ zurücklegen, während sich in Frankfurt und München „Situation Rooms“ ergründen lassen.  Unsere Tour endet nach zwei Stunden auf dem Dach eines Krankenhauses. Der Blick über die Stadt ist das große Finale. Wir geben unsere Kopfhörer ab und sind wieder Individuen. Aber vielleicht trauen wir uns jetzt ein bisschen mehr – auch ohne Herde.

Weitere Projekte von Rimini Protokoll:

“Situation Rooms – Ein Multi Player Video-Stück” ist vom 30. Oktober bis 04. November im Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt zu sehen. Anschließend vom 18. bis 30. November beim SPIELART festival (Münchner Kammerspiele).

“Radioortung – 10 Aktenkilometer Dresden – Ein begehbares Stasi-Hörspiel” findet am 26. und 27. Oktober statt. Startpunkt ist das Staatsschauspiel Dresden.


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