Mein San Keller Album

By Stefan Kaegi

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Es muss ziemlich genau 15 Jahre her sein, dass ich San Keller zum ersten mal begegnet bin. Im Züri-Tipp hatte ich unter "Ausstellungen" einen merkwürdigen kleinen Eintrag gefunden. Da wurde eine "Bildpräsentation" angekündigt, so meine ich mich zu erinnern, an einem seltsamen Ort: In einem Hotelzimmer. – Öffnungszeiten? Die ganze Nacht.

Den Namen des Künstlers hatte ich zwar noch nie gehört, aber das Format interessierte mich. Also nichts wie hin.

An der Reception wusste man nicht sofort Bescheid. Aber dann wurde mir doch eine Zimmernummer mitgeteilt. Im dritten Stock öffnete mir ein junger Mann (in meinem Alter) die Tür. San Keller bat mich freundlich ins Hotelzimmer. Alles war so geheimnisvoll, als würde er mir gleich einen Koffer voll Geld überreichen. Wir setzten uns. Auf einem Stuhl gegenüber stand es: Das Bild. Eine Glasplatte mit einer aufgedruckten Tabelle, die minutiös genau erfasste, wann der Künstler im letzten Monat gelegen, wann gesessen und wann er gestanden hatte.

Dass diese minutiöse Selbstbeobachtung zu einem Bild geworden war, schien dem Künstler nicht zu genügen. Er wollte das Bild nicht alleine lassen, denn er spürte bereits, dass das Wesen seiner Kunst in der Begegnung zwischen Menschen besteht. Und so verbrachten wir drei interessante Stunden mit der Diskussion, wie dieses Bild nun am besten zu Gesprächsstoff werden könnte, wie es zwischen uns bereits geschehen war. Ausser mir kam in diesen 3 Stunden niemand sonst im Hotel vorbei.

Kann sein, dass ich mich an diese Nacht ganz falsch erinnere, aber die Erinnerung ist noch immer so stark, als hätte ich sie selbst erfunden.

In der Folge gab San Keller das Bild an sechs Bewohner verschiedener Dörfer eines innerschweizer Kantons, um sie danach vor Publikum zu befragen, was zwischen ihnen und dem Bild geschehen war. Das Publikum besuchte die Bewohner auf einer ganztägigen Butterfahrt von Haus zu Haus. Und hatte unterwegs viel Zeit zum diskutieren über Kunst, über die Menschen gegenüber der Kunst und über diese seltsame Mission auf der es sich da befand.

Damals verdiente San Keller sein Geld noch mit seinem Nebenjob als Psychiatriepfleger. Da hat er seine wichtigste Strategie entwickelt: Die Geduld. Ein San Keller Werk ist nie gutgetimetes Entertainment sondern es erschliesst sich während man sich ihm und vor allem sich selber aussetzt. San Keller ist die Pop-Art-Version eines Buddhas. Er stellt eine Frage und schaut dem Opfer beim Rätseln zu. Wer das Rätsel nicht löst, hat gewonnen.

In den 15 Jahren seither haben sich unsere Wege immer wieder gekreuzt. Jene Glasplatte, jenes einzige Bild, das ich von ihm besessen habe, wurde leider bei der Löschung meines Hausrats in Frankfurt mitvernichtet. Aber was von San Keller bleibt, sind ohnehin nicht Objekte sondern Erinnerungen an Situationen.

Hier kommt mein innerliches San Keller Foto Album:

- San Keller auf einer Nachtwanderung über einen sehr hohen Berg im Tessin. Er zieht einen Fahrradanhänger, in dem eine seiner Zuschauerinnen sitzt, weil die Blasen an ihren Füssen irgendwann fast so gross wie ihre Füsse waren. San Keller zieht den Wagen mit dem Gesicht eines Esels.

- San Keller auf einem Baum in Paris, wo er für einen Schweizer Kunstmäzen ein Musikvideo tanzt, fast so ungelenk wie die rankigen Äste.

- San Keller der sich in New York mit 20 Menschen trifft, die einander nach und nach nach Hause begleiten.

- San Keller unterwegs in einem Bus nach Rom - solange bis ihm und seiner Reisegruppe das Benzin ausgeht, dann auf zur nächsten Tankstelle und wieder nach Hause zurück.

- San Keller in Frankfurt, wo er auf der Bühne liegt und den Gute-Nacht-Geschichten seiner Zuschauer lauscht. Das Stück dauert so lange, bis San Keller eingeschlafen ist.

- San Keller mit seiner San Dance Company, die immer nur tanzt, wenn es regnet.

- San Keller unter dem Tisch einer Nachrichtensprecherin des Schweizer Fernsehens, in deren Redaktion er einen Arbeitsvetrag für das Schlafen am Arbeitsplatz erfunden hatte. In diesem Werk ist eigentlich alles enthalten, was seine Position ausmacht: Seine Trotzköpfigkeit angesichts des Fortgangs der Welt und seine stoische Beharrlichkeit gegenüber dem politischen Tagesgeschehen, das Wort für Wort über seinen Kopf hinweggesprochen wurde.

- San Keller mit 1000 Schweizer Franken in 5-Rappen-Stücken in einem grossen Sack irgendwo an einem Stadtrand, erschöpft auf der Flucht vor dutzenden von Kindern, die ihm folgen, bis er mit dem Sack zusammenbricht und sie die Münzen zusammenlesen und in ihre Taschen stecken.

- San Keller im San Keller Museum, das seine grösste Sammlerin – seine Mutter – führt und das nach Absprache jederzeit zu besichtigen ist, in ihrem Wohnhaus in Bern. Die Anzahl seiner phänomenalen Werke übersteigt längst mein Zählvermögen.

San Keller kommt also nach Graz – ein halbes Jahr nachdem Marina Abramovic im MOMA in New York monatelang an einem Tisch sass und man als normal sterblicher durch langes Warten, das Recht erlangen konnte, der Performancekünstlerin in die Augen zu schauen. Auch bei ihr geht es um Geduld und Ausdauer. Und doch ist bei San Keller alles anders. Die Sakralisierung von Präsenz liegt ihm fern. Wo Abramovic Schamanin sein will, ist Keller ein Diener mit einer Unterwürfigkeit wie sie Robert Walser beschrieben haben könnte. Ein Dienstleistungskünstler mit philosophisch sublimiertem Helfersyndrom. Der Rest ist stilles Warten, während sich die Menschen rundum versammeln, sich dazugesellen, mitmachen und "sich wundern" – so nennt man das in der Schweiz.

Einmal habe ich auf einer Preisfrage von San Keller nach dem besten Witz über San Keller, den zweiten Preis gewonnen. Mein Witz lautete: "Stellen Sie sich San Keller auf Kokain vor."

Ich habe dafür ein San-Keller-Büchlein gewonnen, das ich genauso verloren habe wie die Glasplatte. Aber das macht nichts. So stark wie die Erinnerung daran, was man mit San Keller erlebt hat, ist kein Ding.