Bunte Stellvertreter im besten Land

Rimini Protokoll: „Best Before“ - Ein interaktives Computerspiel mit Publikum am Berliner HAU

By Thomas Irmer

01.09.2010 / Teatr Pismo

Für dieses von Helgard Haug und Stefan Kaegi im Zentrum der kanadischen Spieleindustrie Vancouver entwickelte Projekt braucht man vor allem eine ruhige Hand mit flinken Fingern und ein sehr aufmerksames Auge. Denn als Mitspieler hat man eine der zweihundert sitzplatzgebundenen Spielkonsolen in der Hand und muss auf der Leinwand über der Bühne seinen persönlichen Avatar nicht nur ständig im Auge behalten, sondern auch die richtigen Entscheidungen treffen.

Es geht um eine Art Zivilisationsspiel, und die Rimini-typische Einführung der Experten fällt diesmal recht knapp aus. Da ist zunächst Ellen Schultz, eine Frau um die sechzig, die nach einer Karriere als Journalistin heute als 'Flagger' an kanadischen Straßenbaustellen arbeitet, wo sie den Verkehr anhält und Autos durch die Baustelle winkt. Sie ist also im Regulieren noch ganz der Echtwelt verhaftet. Duff Armour dagegen kommt aus der Spieleindustrie von Vancouver und führt gemeinsam mit der aus Südafrika stammenden Künstlerin Brady Marks durch den Abend, ergänzt durch die Echtwelt-Nachrichten, die der Lobbyist Arjan Dhupia im Stile eines Nachrichtensprechers als Verknüpfung von Spiel und Realität vorträgt.

Mit der Zuteilung des Avatars, der zunächst nicht mehr als ein farbiger Punkt ist, der sich auf und ab sowie nach rechts und links bewegen lässt, wird man eine Figur in BestLand, die nach und nach mit individuellen Eigenschaften ausgestattet zum Bürger dieser simulierten Gesellschaft mutiert. Die abgefragten demographischen Zugehörigkeiten gelten zunächst der Einstellung zu Sex, Drogen, Waffen, Kindern, Abtreibung und grundsätzlicher kultureller Orientierung. Als Bücherwurm etwa erhält die bunte Knolle eine Brille, bei schwangeren wölbt sich etwas als Bauch und Krankheit wird durch einen Narbenstrich markiert. Man kann Geld der Währung Bestos vermehren und verlieren, heiraten, auswandern oder im Gefängnis landen und über soziale Gleichheit und Einwanderer abstimmen - meist über die Bewegung des Avatars auf die rechte oder linke Seite des Screens. Ein buntes Gewimmel, bei dem nicht so geübte Spieler schnell mal ihren Stellvertreter verlieren und durch Jump-Klicken in der Masse wiederfinden müssen.

Helgard Haug sagt, dass in erster Linie „alle Zuschauer auch Mitspieler sein sollten, die sich in der Anonymität eines Rollenspiels mit ihren abgebildeten Entscheidungen verhalten können. Das führt auch zu einem kaum planbaren Spielverlauf – jeder Abend ist anders. Und jeder kann dabei auch entscheiden, ob er seine Rolle als Test gegen das ganz normale Leben draußen nutzen möchte.“

Natürlich besteht der Reiz darin, dass das Prinzip des anonymen Netzwerkspiels in den Theaterraum überführt wird, wo die Identität der Avatare auch anonym bleibt. Zwar erhält der Stellvertreter einen Namen zugeteilt, aber er gehört zu einem stillen Mitspieler, der sich auch willentlich unkorrekt verhalten darf. Duff Armour erklärt aus seiner Praxis als Spieletester, dass die große Mehrzahl der Online-Spieler mit falschen Angaben und Winkelzügen im System betrügt, was im Raster von BestLand zumindest ansatzweise aufgedeckt werden kann: Wenn man Drogen konsumieren will und gleichzeitig öffentlich dagegen abstimmt, wird das vom System bemerkt. Und hier bekommt die Sache allmählich ihren Rimini-Touch der spielerischen Vorführung gesellschaftlicher Verhältnisse. Als schließlich vier Präsidentschaftskandidaten für BestLand gleichsam ausgefiltert werden, haben diese auch recht merkwürdige Profile: Chaz hat zum Beispiel nacheinander angegeben, ein Slacker und doch sehr ambitioniert zu sein. Er ist außerdem für Armeeeinsätze und gleichzeitig für die Legalisierung von Marijuana. Bei der echten Abstimmung hat er dann auch keine Chance, und der Spieler von Chaz darf sich fragen, ob seine Angaben nicht einfach nur Quatsch waren oder ob er das erwartete Profil seines Avatars mit Erfolg subvertiert hat. Wie im richtigen Gesellschaftsleben gilt auch hier der richtige Einsatz von Maske und Profil.

Genau das ist der Hintersinn dieser mit viel Spaß moderierten Vorführung, denn nicht nur Staat und Politik, sondern vor allem die private Wirtschaft basteln sich ein Bürger-Profil aus wuchernden Datenmassen zusammen, auf deren virtueller Grundlage scheinbar echte kollektive Entscheidungen getroffen werden. Mit der Konsole in der Hand erlebt man also ein Lehrstück als Teilnahme an Gesellschaftsbildung, das jedoch auch die Unschärfe von demographischen Erhebungen und letztlich ihren fiktiven Charakter hinterfragt.

Es ist nicht das erste Mal, dass Rimini Protokoll die virtuelle Welt direkt in das Bühnengeschehen einbezieht. In „Blaiberg und sweetheart 19“ (Schauspielhaus Zürich 2006) ging es um die Verbindung von Partnersuche, Kardiologie und Herztransplantationen, wobei eine Expertin mit künstlichem Herzen sich selbst als Second-Life-Avatar nachgebaut hatte, um all das, was sie nicht mehr leisten kann, in der virtuellen Welt zu vollführen: Sport und körperliche Höchstleistungen. Eine andere Expertin ließ ihren verstorbenen Sohn in SecondLife weiterleben, nachgestaltet bis auf die letzte Sommersprosse. Beider Teilnahme an dieser Welt war auf großen Screens so in die Aufführung integriert, dass sie sich mit dem Thema der künstlichen Herzen in einer künstlichen Welt - vorgetragen von zwei sozusagen doppelt Betroffenen – gleich mehrfach assoziierte. Für längere Passagen verfolgte man nicht das Geschehen auf der Bühne, sondern auf den Screens, wohin sich also das Herz-Konstrukt beinahe überpräsent verlagert hatte und die dabei in der Wirkung den Live-Video-Screens (eines absenten Geschehens) ähnelten.

„BestLand“ ist da vergleichsweise weniger komplex als die schon sehr ausdifferenzierten sozialen Landschaften von SecondLife. Gemeinsam ist beiden Arbeiten jedoch, dass der Screen zur eigentlichen Szene wird, wo Handlung stattfindet oder abgebildet wird. Wobei für „Best Before“ natürlich das interaktive Moment im Vordergrund steht. Interaktiv im Verhältnis zum szenischen Screen: unbedingt. Im Verhältnis der Zuschauer untereinander jedoch nicht oder nur sehr begrenzt vermittelt. Auch das vielleicht eine Erkenntnis auf höherer Ebene: Die Teilnahme an einem mehr oder weniger demographischen Spiel ist eben doch noch nicht die Teilhabe an einer simulierten Gesellschaft, seien deren Probleme und Abstrusitäten unserer realen Gesellschaft noch so ähnlich.

Helgard Haug resümiert nach einigen Vorstellungen in verschiedenen Städten und Ländern: „Es kommen ja im Publikum zwei Welten zusammen, die sonst wenig miteinander zu tun haben. Theaterfans bewerten das mit den Kriterien des Theaters, und dann gibt es die echten Gamer, die vielleicht zum ersten Mal im Theater sind, die sind oft auch beeindruckt davon, dass wir das als Theater machen. Aber für die Gamer ist unsere Spielanlage sicher nicht avanciert genug und das Design zu schlicht. Aber mit den unvorhersehbaren Spielverläufen war das auf jeden Fall ein Schritt in diese Richtung, Computergame und Theater mit dem Publikum zu verbinden.“

Strukturiert wird die zweistündige Veranstaltung durch einen von Flagger Ellen an Flipcharts angezeigten Ablauf des Lebensalters. Viele werden am Ende über 90 Jahre alt, aber dann, jenseits der 100, ist die linke Spielfläche schon fast leer - bis der pfeifende Sturm des Todes auch die letzte kugelrunde Überlebende im stolzen Alter von 110 Jahren aus dem Spiel gefegt hat: GAME OVER.


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