Wir arbeiten nur mit Profis

Interview mit Helgard Haug und Daniel Wetzel / Rimini Protokoll

Von Uwe Gössel

01.05.2006 / Berliner Festspiele (Homepage)

Das Regie-Kollektiv Rimini Protokoll ist beim diesjährigen Theatertreffen doppelt vertreten: Ihre dokumentarische Inszenierung „Wallenstein“ gehört zu den ausgewählten Stücken und beim Internationalen Forum leiten Helgard Haug und Daniel Wetzel einen der vier Workshops. Während der Vorbereitungen zu diesem Recherche-Workshop entstand ein Email-Interview über ihre Arbeit

Uwe Gössel: Kritiker haben schon viele Bezeichnungen für Rimini Protokoll gefunden „Wirklichkeitsverstärker“, „Heilsbringer“, „liebenswürdige Exoten“, „Fallenstellertruppe“, „neue Realisten“, „begnadete Rechercheure und Menschenfischer“. Oder seid ihr Forscher? Theaterpioniere? Als was seht ihr euch?

Daniel Wetzel: Forscher wäre ich gern, Neuland ist für uns eine wichtige Richtung bei allen Arbeiten. 

Helgard Haug: Das ist schön – das ist jetzt wie beim Einchecken im Hotel! Da steht dann Profession und ein leeren Kästchen drunter, das einen anschreit... Das kann einen in eine große Sinnkrise führen – dieses leere Kästchen! Da stehe ich mit einem angeketteten Kuli in der Hand, habe brav die Nummer meines Persos abgemalt, mein Geburtsdatum, meine Adresse, meinen voraussichtlichen Abreisetag – also was bin ich heute? Eine unserer Protagonistinnen aus Wallenstein hat das neulich sehr galant gelöst, sie hatte als Leiterin einer Seitensprungagentur zwar kein Problem mit ihrem Berufsbild, um so stärker galt es aber das Geburtsdatum zu verschleiern – sie ist eine Frau ohne Alter – sie hat dann einfach in das Kästchen ihre Unterschrift gesetzt und bei Signatur gleich noch mal – in einer völlig anderen Weise! Als ich ihr gesagt habe, dass sie nun zwei Mal unterzeichnet hat (ich wollte auch endlich mal rauskriegen wie alt sie ist) sagte sie einfach: Ja und stiefelte los. Also: Ja.

UG: Woher kanntet ihr den Beruf, den ihr ausübt? Welche Vorbilder hattet ihr?

HH: Der Regisseur-Typ oder der Typ Bildender Künstler – das sind ja klassischerweise eher Schreckensbilder. Eine schwarz gekleidete, egozentrische, verlebte Person mit lauter Stimme, die immer mit der Abreise droht falls nicht alles nach seinem Willen geht – das kann man nicht ansteuern wollen... Ein Kind sagt ja auch nicht Mama, ich will Regisseur werden, wenn ich mal groß bin – nein, es will maximal Schauspieler werden aber am liebsten will es auf den Mond fliegen und Abenteuer  erleben, Menschen retten, Feuer löschen oder Fee sein. Wir haben einfach versucht alle unsere Kindheitswünsche unter einen Hut zu bringen. Alles machen zu dürfen – überall ‚Tag der offenen Tür’ zu haben. Davon gab es keine vorgelebte Idee; außer, dass mich immer Menschen sehr fasziniert haben, die konsequent ihren eigenen Fragen und Ideen nachhängen konnten.
 
Vor einigen Tagen haben wir in Zürich im Uni-Spital eine Herztransplantation für vier Kameras simuliert. Eine ganze professionelle Ärztecrew hat in ihrer Freizeit an dieser Simulation teilgenommen. Auf dem OP-Tisch stand ein Stativ darauf die vier Überwachungskamera, die den kleinen Hightech-OP-Raum rundum erfassen sollten. Eine Camera fiel aus, so dass wir selbst ganz nah an den OP-Tisch ran konnten. Imanuel Schipper, unser Dramaturg, stand mit uns 2 1⁄2 Stunden wie gebannt vor dem Tisch und sah die Hände der OP-Schwester von Besteck zu Besteck fliegen. In Windeseile das vorbereiten und anreichen was gebraucht wird. Danach drehte er sich um und sagte unter dem grünen Mundschutz: „Das ist mein neuer Job!“ Es gibt so viele Jobs oder Tätigkeiten außerhalb des Theaters, die so stark faszinieren, dass man sich in sie hinein wünscht und doch ist – glaube ich – das tollste überhaupt das alles sehen und kennen lernen zu können und dann noch was anderes, Drittes daraus zu machen. Schipper hat seinen Job dann ja auch nicht gewechselt, sondern ist mit uns in einen Schweinestall gezogen, um herauszufinden wie die Zucht von zukünftigen Organspendern so aussieht!
 
DW: Es gab eine Reihe von Nach-Bildern, die uns eher zur Auseinandersetzung mit Performance Strategien geführt haben. Zugleich ging es in Gießen, wo wir Theaterwissenschaft studiert haben eher um Brecht und Wilson, als um Kortner und Stein. Unsere eigenen Projekte auf der Bühne entstanden in Abgrenzung zu den Erzählstrategien des Theaters und auf der Suche nach ‚echten’ Handlungen, die für sich und nicht etwas Abwesendes stehen, und nach Objekten, die für sich stehen und nicht auf anderes verweisen. Unser Theater kommt eher aus der Auseinandersetzung mit Performance und weniger aus der Auseinandersetzung mit Sprechtheater. Und wenn du nach Vorbildern fragst: Die finde ich die eher dort, wo es außerhalb des Theaters Zuschauersituationen gibt. Zum Beispiel gibt es in vielen Ländern auf der Post oder bei der Bank Zuschauerreihen mit Blick auf den Schalter, auf den man wartet. Die Leute am Schalter arbeiten da völlig anders, eben vor Leuten. Neulich erklärte uns ein Eisverkäufer in Wolfenbüttel, er würde sehr bewusst seine Eistorten öffentlich am Eisstand herstellen, dort wo die Kunden ihn arbeiten sehen, und nicht in seiner Küche weiter hinten – denn vor den Passanten würde er selbst nicht schummeln und irgendwie hygienischer arbeiten und die Kunden würden das auch sehen. Da erfindet sich einer im Angesicht seiner Abnehmer auf eine Art, wie er es ohne Publikum nicht könnte – werktags in Wolfenbüttel. Mit solchen Leuten dann am Theater zu arbeiten ist eine beständige Quelle für Ansprüche, formale Notwendigkeiten, die an das Theater herangetragen werden. 

UG: Ihr geltet mittlerweile als Experten, die dem Publikum neue Sichtlinien sowohl auf das Theater als auch auf Themen und Stoffe außerhalb des Theater freilegen. In welcher Form denkt ihr an das Publikum?

DW: Zunächst sind wir selbst eines, wir recherchieren eher, das heißt: wir besuchen Orte, schauen zu, fragen Leute, was sie tun und wissen. Dann, wenn wir an einem Stück arbeiten, ist das Publikum eine Größe, die sich sehr von uns unterscheidet. Wir können hören jemandem für Stunden zu und wissen, dass wir später an etwas daraus arbeiten werden, das sich innerhalb von Minuten abspielen wird, weil eine Aufführung anderen Gesetzen folgt. Deshalb finde ich die Debatte über Experten statt
Schauspielern auf der Bühne sehr verkürzt. Es geht an einem Theaterabend ja dann um „gut“ oder „nicht gut“ nach Maßstäben des Theaters und nicht der persönlichen Begegnung mit einem Menschen. 
 
HH: Es gibt ja neben den rein Kulturinteressierten pro Projekt auch ein recht spezifisches Publikum, ein kenntnisreiches, das über das Thema oder Berührungspunkte bei der Recherche zu den Stücken kommt – erneut Experten. Wenn man ein Stück über das Gericht macht (wie bei „Zeugen! Ein Strafkammerspiel“ zum Beispiel), dann ist man ja auch zu bestimmten Haarspaltereien verpflichtet. Ich weiß dann einfach: das wird sich Richter x und Schöffe y anschauen und dem kann ich dann nicht mehr einen Hund als einen Elefanten vormachen, ohne das vorher zu klären – auch wenn der Elefant jetzt wirklich besser wäre. Die Protagonisten lassen einen das Publikum nicht vergessen, denn sie haben die ganze Zeit die Fragen im Kopf: Wer wird mich anschauen? – Was werden die denken? – Wie stehe ich da? Bei unserem Stück „Schwarzenbergplatz“ in Wien hat uns das ziemlich viele Nerven gekostet. Die Personen, die wir in das Projekt verwickelt hatten, kamen alle aus dem Bereich diplomatischer Dienst und wir müssten um jeden Halbsatz kämpfen, da die Protagonisten weltweite politische Konflikte befürchteten, wenn sie dies oder jenes sagen würden. Botschafter Wolte sagte immer: „Das kann ich auf keinen Fall so sagen – die Nord-Koreaner werden kommen und sich das anschauen und das gibt dann ernsthaft Ärger.“

Letztendlich ist auch ganz viel dran an der Sorge, dass das auf der Bühne Gesagte Konsequenzen für die Menschen in ihrer Realität haben kann. Bei „Wallenstein“ gab es immer wieder die Frage: ‚Hat der Vietnamveteran den Offizier denn nun umgebracht?’ Im Stück erzählt er von dem Vorfall, er beschreibt, dass er sich in einer Gruppe engagiert hat, die darüber abgestimmt hatten und zu keinem eindeutigen Ergebnis kamen, der Offizier aber trotzdem wenig später durch eine entsicherte und gezielt deponierte Handgranate starb (so wie ca. 1.000 andere Offizieren der US Armee durch Anschläge aus ihren eigenen Reihen ums Leben kamen). Dave hat immer abgestritten was mit dem konkreten Anschlag zu tun zu haben aber das kann man auch anders verstehen. Und Kritiker haben das zum Teil anders verstanden... Insofern wirkt das, was auf der Bühne geschieht ins ‚normale Leben’ zurück – die Protagonisten müssen sich immer fragen wie sie den Menschen aus ihrer Realität nachdem Stück begegnen – ihnen geht es ja meist nicht um eine tolle Rezension und Lob aus der Theaterszene sondern um die Reaktionen aus ihrer direkten Nähe: Familie, Kollegen, Vorgesetzte...

UG: In „Call Cutta“ läuft das Publikum mit Handys durch die Stadt, in „Wallenstein“ gibt es seine Meinung in einer Umfragen eines Ex-Oberbürgermeister-Kandidaten preis. Die Zuschauer spielen sich und den übrigen die Rolle des Publikums vor. Welche Rolle spielt das Publikum für euch?

DW: Im Publikum sitzend bemerke ich häufig, dass ich selber über Qualitätsfragen nachdenke, als wäre da vorn ein Waschmittel in Aktion oder ein Matratzentest. Dann werde ich manchmal sehr müde. Denn häufig heißt das dann, auszusteigen, gegen die Intentionen der Arbeit zu gehen, der ich zusehe, und da mache ich mir doch lieber meinen eigenen Abend – da fällt dann die Seite des Abends weg, die von mir Eintrittsgeld wollte. Mir ist mal passiert, dass ich von einem Gespräch mit einem Junkie am U2-Bahnsteig vom Bahnhof Zoo erzählt habe und im Erzählen von dieser Begegnung fiel mir auf: Das war ja gar nicht am Bahnhof Zoo, das war ja auf der Schaubühne! Ostermeister! Der zweite Gedanke war: Verloren, alles ausgedacht, sein Name war Hase, ich konnte davon nicht weitererzählen, es war ja doch gar keine Begegnung gewesen. Ich hätte nur noch vom Theater weitererzählen können und einem gelungenen Theater-Effekt. Ich war einer Begegnung beraubt worden und eines vielleicht theaterwissenschaftlich relevanten Erlebnisses bereichert. Das ist ein unangenehmes Gefühl gewesen. Dann fiel mir auch gleich ein eher schlimmer Moment derselben Inszenierung wieder ein, in der plötzlich eine Schauspielerin inmitten all des verführerischsten Realismus zum Publikum sprach – irgendwie über das Schauspielern und warum wir jetzt alle beisammen sind und wie schlecht die Poesie-Karten stehen angesichts der Junkies am Bahnhof Zoo. Ich interessiere mich für Momente im Theater, in denen sich diese beiden Pole – Interesse an der Wirklichkeit und Bewusstsein dafür, dass man eigentlich in einer Anti-Wirklichkeits-Produktionsmaschine sitzt, der der Boden unter den Füßen zu wackelig geworden ist – anders miteinander reagieren. Es gibt Aha-Momente in einem Publikum, nach wie vor, die man spüren kann. In denen sind beide Realitäten beieinander, beide gespürt, beide
mitgedacht, und man denkt sich selbst mit. 
 
HH: In „blaiberg und sweetheart19“ dem jüngsten Stück, das Ende März in Zürich Premiere hatte, haben wir eine Arena-Bühne gebaut. Das Publikum sitzt ganz dicht um ein kleines Zentrum herum – die Basisentscheidung wollen wir großes ‚Distanztheater’ oder eines auf maximaler Tuchfühlung machen - wollen wir die Vereinzelung oder genau die Frage an die Menge, ist extrem wichtig und eine die ganz früh gefällt wird. Das hat auch immer viel mit unseren eigenen Bedürfnissen zu tun – jedes
Stück ist ja auch die Antwort auf ein vorangegangenes!  Da wir auch die ersten Zuschauer unserer eigenen Stücke sind, muss es immer auch eine neue Konstellation, einen neuen Reiz geben. So viel zu Grundkonstellation und natürlich denken wir an die Menschen, die sich in das Projekt begeben, wir entwickeln die Projekte ja nicht zu Therapie- oder Sozialzwecken – wir entwickeln die Stücke für ein Publikum, das Gedanken mitgehen können muss oder Punkte gebaut bekommt um von dort abzuflie-gen. Vielleicht sind wir – zurück zur Ausgangsfrage – ja vor allem so was ähnliche wie Rita Mischereit und verkuppeln. Zuschauer mit Gedanken – Zuschauer mit Personen – Zuschauer mit Situationen bis zu dem Punkt an dem der Zuschauer selbst aktiv werden muss und seine angestammte Rolle verlässt.
 
UG: Darüber hinaus, inwieweit spielt die öffentliche Reaktion für euch eine Rolle?

HH: In dem Sinne, dass man gemeinsam an etwas herum denkt, eine große.
 
DW: und in dem Sinne, in dem sie eine „Rolle“ spielt, ist sie auch interessant, aber wir sind keine Medien-Jongleure und schlingensiefern nicht mit Fax-Meldungen um das Inszenieren unserer Inszenierung herum. Nichts dagegen, im Gegenteil, aber so sind wir irgendwie nicht. 
 
UG: Ihr arbeitet mit Darstellern, die nicht aus der Rolle fallen können, weil sie nicht aus ihrer Haut können. Was darf ein Laiendarsteller nicht können dürfen wollen?
 
HH: Er darf einfach nicht Laienschauspieler sein wollen – der Aspekt des Schauspielerns kommt einfach gar nicht vor – wir arbeiten mit ihnen bei den Proben an Versuchsanordnungen – stellen sie vor Aufgaben in dem wir nicht nur wollen, dass sie einen bestimmten Text sprechen, sondern es auch mit der einen oder anderen Situation aufnehmen. Wir hatten es auch erst einmal, dass ein Protagonist, nach dem ein Stück abgespielt war, zu uns kam und sagte: „Macht doch bitte noch mal was mit mir – egal was, ich möchte so gern wieder auf der Bühne stehen.“ Das war dann prompt die Person, die in Wien nur über seine Verschwiegenheit sprechen wollte – also nicht erzählt hat, was er als Fahrer des Opec Vize so im Auto mitgehört hat. Der Schweiger also – der möchte noch mal im Rampenlicht schweigen. Die, die wirklich etwas zu erzählen wissen, dass das Theater an sie und ihre Inhalte gebunden ist und dort auch gut aufgehoben ist. Klar doch, dass jemand, der alles kann nicht so spannend ist wie jemand den man dabei beobachtet wie er etwas versucht. Die Betonung liegt auf: ALLES. Unsere Teilnehmer können ja ganz viel – meistens besser als ein Schauspieler, deshalb be-
zeichnen wir sie ja auch als Experten. Sie können Herzen transplantieren, Singles vermitteln usw usf. aber sie können das nicht spielen oder eben nur sich selbst – das ist dann das Gegenteil zum Handwerk.

DW: Wir haben noch nie mit Laien gearbeitet, nur mit Profis – bei „Wallenstein“ sind das z.B. ein Politiker, der einen Wahlkampf à la Bill Clinton gefahren hat, eine Seitensprung-Vermittlerin, eine psychologische Astrologin, ein ehemaliger Flakhelfer - lauter Leute, die eine professionelle Sicht auf Schillers Trilogie haben, die sich mit Germanistik und Dramaturgie nur punktuell trifft, aber sie sind auch Vertreter der Behauptung, dass Schillers Stück irgendwem etwas zu sagen habe. Wie in amerikanischen Filmen sind Profis vor allem dann interessant für Zuschauer, wenn sie an ihre Grenzen geraten oder sich auf fremdem Terrain bewegen. Das Theater kann ein solches Fremdgebiet sein. Aber uns interessiert nicht, was sie dort nicht können, sondern das, was sie dort können – sie können nicht toll jemand anderes spielen, sondern dass sie es nicht können gibt ihnen mit den Dingen, die sie selbst zu sagen haben eine direktere Tragweite, meist auch eine bescheidenere. Es gibt diesen Schiller-Fan in unserem „Wallenstein“, der einfach diese Liebe zum Schiller der Oden und Balladen verkörpert, er arbeitet in seiner Freizeit daran, soviel „schönen Schiller“ wie möglich auswendig zu können und wenn der sagt, Schiller sei einfach großartig, tut er das mit so viel Eigenart, dass es nicht so sehr darum geht, ob er das gut macht oder schlecht – er meint es sogar. Natürlich merkt man ihm auch an, dass die Theatersituation ihn unter Stress versetzt und er nicht einfach ‚er selber’ ist, sondern Regie-Vereinbarungen folgt. Wie man einfach ‚man selber’ sein könnte, was man da wäre, hab ich keine Ahnung. Aber er tut mehr oder weniger was wir geprobt haben mit der Körnung der Selbstbehauptung gegenüber der Bedrohung, die das Publikum erstmal für sein Selbstverständnis darstellt. Dann kommt auch eine eigenartige Form von Stolz auf sich hinzu, die Schauspielern ebenfalls eher im Wege stünde. Das Theater von Laien hat mit Atemübungen zu tun, unseres nicht. Wir hoffen, dass sich der vom Theatertreffen verkrampfte Atemapparat des Nicht-Schauspielers auf der Bühne nicht erholt, sondern dass man den ‚Apparat Repräsentation’ und seine Unwägbarkeiten mitspüren kann. Es sind die Verkrampfungen, die mich interessieren, wer Atemübungen macht „fliegt raus“. 
 
UG: Ihr achtet also bei der Auswahl der Teilnehmer darauf, dass sie ein Anliegen haben, ihre Lebenserfahrung ist wichtiger als ihre Bühnenerfahrung.

DW: Unser Interesse an Profis im Gegensatz zu Schauspielern ist auch eines daran, was Bühne alles sein kann. Sie kann ein Ort für so viele tolle Sätze sein, die uns alle interessieren, wenn jemand sie sagt, von dem sie kommen. So oft denken genau diese Leute, dass ihre Sätze ja gar nicht interessant sein können für andere Leute in dieser Publikums-Anhäufung, und da täuschen sie sich eben, weil sie unser Theater nicht kennen, und weil sie dieses andere Theater im Kopf haben, in dem große Schauspieler diese Rollen spielen. Aber für uns sind sie Theater-Innovatoren, weil sie sich auf das Abenteuer letztlich einlassen, uns zu glauben, dass sie dem etwas entgegen zu setzen, oder
hinzuzufügen haben. Sie bleiben möglichst bei ihrem Leisten und wir schustern damit die Bühne um, zu etwas, was Theater auch sein kann. Eine Probebühne funktioniert plötzlich wie ein Negativ: ich komme dort her und die Camera Theater findet das irgendwie der Aufnahme wert. Man denkt über eine Prägung nach, die man dort in dieser Black Box hinterlässt während sie schon geschieht. Das ist un-heimlich, dieses Theater der Selbst-Reflexion im Angesicht der anderen. Ich hab das Stück von Armin Petras nicht gesehen, aber der Satz, der es ankündigt knallt: „We are Camera“. Und gerade dort, wo wir obskur sind, an der Grenze zwischen öffentlicher Funktion und eigener Biografie, öffnet sich der Raum. Das Sich-im-eigenen-Film-Umschauen. Dieses Sich-Umschauen findet aber weniger bei der letzten Othello-Premiere statt und mehr dort, wo Leute, die nie ins Theater gehen sich in ihrer Rolle als „Glieder der Gesellschaft“ normalerweise inszenieren und dafür Abstriche machen, beziehungsweise Anstriche: Richter, die die Robe eigentlich albern finden haben wir einige getroffen, sie erfahren aber täglich, dass sie dem performativen Verfahren der Rechtsprechung dienlich sei. Weil die Vermittlung eines Performativs wie „im Namen des Volkes ergeht jetzt folgendes Urteil“  sich auch über das Kostüm hinaus einer (eher barocken als antiken) Theatertradition bedient, um dieses Konstrukt über die Rampe zu kriegen. Am Strafgericht wird übrigens dauernd betont, dass keine Zuschauer zugelassen seien, sondern nur Zuhörer.  

UG: In euren Theaterproduktionen spielen Darsteller, die außerhalb des Theaters Experten für ein Thema sind, das ihr beleuchten wollt. Woran erkennt ihr, ob ein Experte als Darsteller funktioniert?

HH: Auch hier: in dem er erst mal nicht funktioniert. Und uns mit Selbstbewusstsein seine Welt öffnet. Da gibt es kein richtiges Rezept – wir suchen thematisch gezielt aber nicht den Menschen, im Gegenteil, gut ist auch wer überrascht. Und dann kann es immer sein, dass uns jemand ganz toll gefällt und wir unbedingt mit ihm/ihr arbeiten wollen und das einfach vom Gruppengefüge nicht geht oder terminlich oder finanziell...
 
DW: Kein Rezept in Sicht für mich. Und wenn, dann würden wir es nicht einlösen, sondern die Krankheit wechseln wollen. Bei der Suche spielt immer mit, dass wir nicht Darsteller suchen, sondern etwas wissen wollen und deshalb Leute treffen wollen, die dieses Wissen haben, verkörpern. Wir begegnen mit ihnen dann auch dem Text, aber wegen dem nehmen wir sie nicht, sondern, weil sie der Text bis zu einem gewissen Grad sind. Vielleicht arbeiten wir häufig mit Leuten, die diesen gesellschaftlich trainierten Text dann schon wieder brechen. Aber die Frage nach einem Strickmuster läuft diametral zu unserer Arbeitsweise, in der das interne Argument, dieses oder jenes hätten wir doch schon mal gehabt, ein echtes Killer-Argument ist. Dann ist die Idee oft automatisch vom Tisch. Weil wir was Neues probieren wollen, sowieso. 
 
UG: Im Mittelpunkt eurer Arbeiten stehen Experten, die von ihren Anliegen sprechen, aber keine Bühnenerfahrung haben. Insofern wärt auch ihr ideale Akteure einer Arbeit von Rimini Protokoll. Jetzt mal fiktiv gesprochen, welche Thematik würdet ihr mit euch inszenieren können?

HH: Schöne Frage – ich denk mal drüber nach! Wir hatten mal vor öffentlich einen Schauspielkurs zu absolvieren.
 
DW: Aber wir haben das auf eine Art auch hinter uns. Wir haben begonnen, mit Experten für andere Lebenssituationen zu arbeiten, nachdem wir gemerkt haben, dass sie besser sind als wir, weil sie einfach nicht so sehr die Kunst im Kopf haben. Ich glaube, wir sahen auf der Bühne häufig grimmig aus vor lauter Kunstkopf. Für Helgard und mich waren die ersten Experten auf der Bühne zwei Freiwillige von der Feuerwehr Gießen, die angetreten waren, weil wir mit Basstönen Kerzen auswum-mern wollten, die vor den Bass-Boxen standen, und dann die Kerzen wieder anzünden wollten und dann wieder auslöschen. Das war 1995, hatte für uns mit dem An- und Aus von Darstellung zu tun, mit dem An- und Aus von Licht, Nachdenken, Aufführung, eben diesem ganzen Performance-Zirkel, der letztlich zur Selbstreferentialität auf Marionettenaufsatz-Stufe-Zwei verdammt war. Wir fragten die Feuerwehrleute, ob sie ihre Anwesenheit nicht transparent machen könnten und ihrer Obrigkeits- funktion vielleicht nicht einfach 20 Zentimeter weiter innen, im Sichtfeld nachgehen könnten. Das ging, weil wir wegen Foucault und dem ganzen Rest auf Scheinwerfer verzichtet hatten und die Bühne nur durch Projektionen erhellt wurde und kleine Arbeitslampen. Alle unsere Projekte in der Zeit liefen auch unter dem Label „Ungunstraum“ und ein solcher war die Bühne für uns, ein Raum, der – geosoziologisch gesprochen – eine weniger günstige Infrastruktur hat, und damit waren auch die Repräsentation und all ihre Sackgassen angesichts einer simplen Kerze gemeint. Aber so sehr die beiden Feuerbekämpfer auch im Halbdunkel saßen, direkt vor den Bassboxen, so sehr bekam der ganz Abend eine andere Dimension als die Kerzen zum ersten Mal ausgegangen waren und sie die Streichhölzer bedienten. Plötzlich sahen wir Performer, die zehnmal besser waren, weil sie „Feuer An“ und „Feuer Aus“ einfach seit Jahrzehnten leben, das konnte man einfach sehen, wie groß der Genuss für einen Feuerwehrmann war, ein wenn auch kleines Feuer zu legen. Und die Bühne machte plötzlich auch so viel Sinn, wo sonst sollte man denn Feuerwehrmänner sehen können, wie sie Feuer an machen. 
 
UG: Eure Arbeiten für das Theater sind sowohl thematisch als auch ästhetisch sehr unterschiedlich, was verbindet sie aus eurer Sicht? Worin besteht ein übergeordnetes Interesse?
 
HH: Wir sind für das Stück, an dem wir augenblicklich arbeiten, einem Tipp von zwei Künstlerkollegen gefolgt und haben begonnen uns mit einer Internetplattform zu beschäftigen und dieses simulierte Leben zum festen Bestandteil des Stücks werden zu lassen. Unsere Protagonisten haben sich Avatare gebastelt und können dort lauter Dinge tun, die sie im realen Leben nicht mehr können oder dürfen. Heidi, zum Beispiel, die mit ihrem neuen, transplantierten Herzen Mühe hat, ein paar Treppen zu steigen kann hier Bergen hoch und runter rennen, sie kann fliegen und in der Sonne braten obwohl es draußen stürmt und schneit. An dieser Grätsche lokalisiert sich vielleicht das, was du ‚übergeordnetes Interesse’ nennst. Für das, was Menschen aus ihrem Leben machen und das, was sie sich wünschen, für das, in was sie hineingeraten, für ihre eigenen Simulationsverfahren. 
 
DW: Theater ist die älteste Form, online zu sein. Theater heißt, ich verbringe Zeit mit dem, was jemand anderes macht. Womit verbringen wir diese gemeinsame Zeit und wie dicht können wir aneinander geraten im Vollbesitz unseres Bewusstseins, dass wir unseren eigenen Kopf haben. Wir müssen immer wieder zusammen kommen, um uns unserer Unterschiede gewahr zu werden. Gelacht wird im Theater allerdings dann, wenn es Gemeinsamkeiten gibt.
 
UG: Welches Thema, das euch interessiert, entzieht sich euch für eine Darstellung auf dem Theater? Anders gefragt: was interessiert euch weiterhin am Theater?

DW: Im Moment ist das Theater von dem du sprichst immer noch ein Raum für uns, der durch den Kurzschluss mit theaterfernen Biografien noch einmal flackern kann. Aber wir denken eher in Projekten, die sich an inhaltlichen Fragestellungen entzünden und dann geraten diese Projekte manchmal ins Theater wie in einen Schutzraum dafür, aber häufig auch auf andere ‚Bühnen’ – wie zum Beispiel ins Mobiltelefon mit Tausenden von Kilometern zwischen den beiden Telefonierenden, oder die Zuschauer befinden sich auf einem Balkon und schauen einem Wochenmarkt dabei zu, wie er alltäglich abgebaut wird, bis seine letzten Spuren von der Kehrmaschine weggefegt werden, auf dass er am nächsten Morgen wieder aufgebaut werde – ein Puppenbühnen-artiges Warentheater voller Illusionsspiele und Tricks, jede Tomate ein Kasperle, und hinter jedem Stand ein wegen der wirtschaftlichen Lage und der Politik mies gelaunter Gröhlhans, der jeden Euro, den er verdient persönlich entgegennimmt.
 
HH: Es ist ja gar nicht so, dass wir alles hinbekommen, was wir wollen. Das wäre auch ziemlich ‚fad’. Eines unserer wichtigsten Projekte ‚Deutschland 2’ ist in seiner Umsetzung ja zum Beispiel komplett gescheitert. Da kann man dann sagen, das Scheitern wurde zum eigentlichen Projekt aber das ist manchmal auch ein bisschen billig. Mit dem Verbot des Bundestags-Präsidiums die Live-Kopie der Berliner Bundestagsdebatte mit Bonner Bürgern im ehemaligen, verlassenen Plenarsaal durchzu-führen, sind wir in die Räume des Theaters geschleudert worden. Wir haben uns plötzlich in einer Theaterhalle wieder gefunden, blaue Stühle aus dem Fundus aufgestellt, einen Adler drucken lassen... und waren neben dem Rausch, der an einem solchen Tag wirkt, wenn über 200 Teilnehmer von 9 Uhr morgens bis  1 Uhr nachts einen Gedanken zu ihrem eigenen machen, ziemlich enttäuscht. Und auch bei den Bühnenproduktionen sind nicht nur viele Rechnungen noch offen sondern auch viele Fragen nicht gestellt.
 
UG: Unverwechselbar sind nicht nur eure Arbeiten, auch die Arbeitsstrukturen in denen sie entstehen folgen wenig den überlieferten Rollenbildern. Wo stößt das Theatersystem an seine Grenzen?

HH: Die Grenzen sind schnell spürbar – gefährlich ist nur, dass unser Befremden dem gegenüber mittlerweile ziemlich abgebaut ist. Bei unseren ersten Arbeiten im institutionellen Theater war alles fremd: die Feuerwehr, die über der Kerzenflamme wacht, die Bauprobe ein halbes Jahr vor Probenbeginn, die Frau von der Maske, die fragt, ob es schlimm sei, wenn sie zur nächsten Probe nicht kommen könne, der Ton mit der ein Schauspieler in der Kantine seinen Kaffee bestellt... Und natürlich war es auch für die Häuser neu mit zwei bzw. drei Regisseuren umzugehen, die gemeinsam
inszenieren, ihre eigenen Bühne bauen, die nicht mit dem Ensemble arbeiten, die lauter Menschen auf die Probebühne und in die Kantine schleusen, die ihren Kaffee eben auf eine sehr andere Weise bestellen. Ich meine gar nicht, dass die Institution Theater was Schlechtes hat – wir sind nur nicht den Weg über Hospitanzen und Assistenzen gegangen und waren mit dem System nicht vertraut und warmgelaufen. In dem Sinne in dem die Produktionen größer und umfangreicher werden ist es ja auch
sehr, sehr hilfreich den Schatten der Institution spürbar zu haben. Eine der größten ‚Gewinne’ nicht im Off-Bereich zu arbeiten sondern an großen Häusern ist ja, dass die Menschen von außerhalb besser dorthin finden. Wenn jemand vom Burgtheater oder vom Schauspielhaus oder vom Nationaltheater anruft und sagt, wir würden sie gern zu einem Treffen – einem Casting – einladen, dann ist die erste Schwelle zwischen dieser Person und uns abgebaut. Egal ob das jemand aus der Chefetage einer Bank, ein Vietnamveteran oder die Leiterin einer Seitensprungagentur ist. Sie kennen die Institution und selbst wenn sie gar keine Theatergänger sind (was meistens der Fall ist) kommen sie mit einem Grundvertrauen.
 
DW: Das Theatersystem stößt dort an seine Grenzen, wo es interessant werden kann. Im Theatersaal sitzen die Leute meist zurückgelehnt und bequem, obwohl viele an Momenten arbeiten, in denen sich die Zuschauer nach vorn beugen, nicht mehr merken, dass sie unbequem sitzen, weil sie beunruhigt-aufmerksam nach vorne starren, weil sie dort zu entdecken beginnen, weil da Gedanken sich entwickeln, die ihnen wie auch immer Spaß machen, weil sie ihnen neu sind. Aber die großen Mög- lichkeiten von Theater sind eben auch, dass es seinen Raum auch immer wieder neu definieren kann. 
 
UG: Theatrale Projekte von Rimini Protokoll sind außerhalb Deutschlands u.a. in Athen, Kalkutta, Riga, Brüssel entstanden. Welche Erfahrungen dort haben eure Sicht auf die Theaterarbeit in Deutschland verändert?

HH: Im nicht-deutschsprachigen Ausland arbeiten wir ja eigentlich hauptsächlich im Rahmen von internationalen Festivals oder mit dem Goethe Institut zusammen und bekommen meistens weniger was von der dortigen Theaterszene mit, als von der dortigen politischen oder gesellschaftlichen Situation. Das interessiert mich auch viel mehr. In Riga haben wir uns zwar das tolle Theater von Alvis Hermanis und auch die phänomenale Oper angeschaut, viel mehr hat uns aber beschäftigt warum der Großteil der Frauen so wahnsinnig aufgestellt ist: mit Schwindel erregenden High-heels usw., in Athen haben wir uns nicht so sehr die gegenwärtigen Produktionen angeschaut sondern sind in Dionysos Theater an nach Epidauros gefahren, um dort zu beobachten welches Theater die Touristen beim Begehen dieser Orte aufführen. In so fern ist das eine sehr generelle Haltung, dass es extrem wichtig ist im Ausland zu arbeiten, dort zu versuchen Ideen zu sammeln und umzusetzen – dort an andere Grenzen zu stoßen. Das gibt einem auch eine Ahnung davon mit wie vielen Privilegien hier im deutschsprachigen Raum gearbeitet werden kann. Dass man verhältnismäßig jung verhältnismäßig viel ausprobieren kann und staatliche Unterstützung und öffentliche Aufmerksamkeit dafür bekommt. Das sieht, so bald man den Kontinent verlässt, schnell deutlich anders aus.
 
UG: Von außen betrachtet habt ihr seit Jahren die Möglichkeiten eure Projekte nach euren Vorstellungen zu verwirklichen, nicht alle Theatermacher können das von sich behaupten. Was würdet ihr ihnen empfehlen?

HH: Aus meiner Perspektive war es – neben Projekten im Ausland - immer sehr wichtig und hilfreich nicht nur in einer ‚Sparte’ zu arbeiten. Neben Theater haben Projekte im Bereich der Bildenden Kunst, Hörspiele, filmische Arbeiten eine sehr gute ‚Entspannung’ gebracht. Das ist nicht im Sinne von Wellness zu verstehen, sondern in dem Sinn, dass man dadurch ein gutes Stück unabhängig von der Laune eines ‚Systems’, einer Sparte wird. Wenn wir nur von Theater zu Theater tingeln würden, würden wir, glaube ich, auch den Schwung ziemlich schnell verlieren. Ich finde es großartig parallel an einem Theaterstück, einem Hörspiel und einer Videoinstallation zu arbeiten und ein Konzept für ein neues orts-spezifisches Projekt zu entwickeln. Oder mich nach einer Premiere an meinen Computer verziehen zu können, den Kopfhörer überzuziehen und erst mal ein paar Tage Soundfiles zu bearbeiten...
 
DW: Keiner sollte Projekte machen, die nicht seinen Vorstellungen entsprechen. Ich versuche, mich nicht in den Mittelpunkt zu stellen mit so einem Willen zur Kunst, und die Mittel, mit denen wir arbeiten nie als selbstverständlich zu nehmen, sondern als Punkte der Auseinandersetzung zu fixieren. 
 
UG: Im Rahmen des Internationalen Forums werdet ihr für zwei Wochen mit jungen Theatermachern aus allen Teilen der Welt arbeiten und ihnen Einblicke in eure Arbeit geben indem ihr ihnen Fragen stellt. Welche werden das sein?
 
DW: Frage eins: Warum schaut Ihr gerade alle nach vorne?
 
HH: Und warum jetzt nicht mehr?
 
 


Projekte

Wallenstein
Call Cutta
Schwarzenbergplatz
Zeugen! Ein Strafkammerspiel
Markt der Märkte
Ungunstraum - Alles zu seiner Zeit