Überwachungsprotokolle zum Mithören

"50 Aktenkilometer" von Rimini Protokoll ist ein begehbares Hörspiel, das in Berlins Mitte Stasi-Akten zum Leben erweckt und Zeitzeugen eine Stimme gibt.

Von Tina Klopp

19.05.2011 / DIE ZEIT - online

 Bei "50 Aktenkilometer" begleiten die Stimmen im Kopfhörer durch die Mitte Berlins.

"Genau hier war es", sagt die Stimme im Kopfhörer. Der Ort, den sie bezeichnet, war früher ein Café, das Pressecafé. Als Hörer dreht man sich unwillkürlich um, guckt zu dem Haus hinauf, das heute ein Steakhaus ist, mit bunten Lettern und Zimmerspringbrunnen. Mit ihrem Mann habe sie dort oben gesessen, erzählt die Stimme weiter, vor die folgenschwere Entscheidung gestellt: Ausreisen, den zweijährigen Sohn und sich in Sicherheit bringen, oder doch in der DDR bleiben? Denn ihren Mann hätte sie zurücklassen müssen, dem
hatte man die Ausreise verweigert. "Wie hätten Sie entschieden?", fragt die anonyme Frauenstimme im Kopfhörer.

Ein begehbares Theaterstück, ein interaktives Hörspiel, ein dokumentarisch-fiktiver Stadtrundgang? Es ist nicht leicht zu erklären, was das Projekt 50 Aktenkilometer von Rimini Protokoll eigentlich ist.

Wer teilnimmt, bekommt am Startpunkt – einem inszenierten "Kontrollzentrum" am Fernsehturm – ein Smartphone, einen Stadtplan auf Papier und einen Kopfhörer ausgehändigt. Dann geht es los, auf selbstgewählten Pfaden durch die Mitte Berlins. Auf der interaktiven Karte des Handy-Displays können die Teilnehmer ihren eigenen Standpunkt ablesen und gezielt die roten Punkte ansteuern, die auch auf der Karte markiert sind.

Am Alex wird von Demonstrationen erzählt, vor der Bundesbehörde für Stasi-Unterlagen (BStU) an der Karl-Liebknecht-Straße kann einem Berliner namens Maeder zugehört werden, der gerade Einsicht in seine Akten nimmt. Und vor dem früheren Parteiarchiv der SED an der Ecke Torstraße und Prenzlauer Allee erzählt eine ehemalige Mitarbeiterin von ihrer Arbeit. Auf dem Dach, auf dem früher die Parteiflaggen wehten, befinde sich heute ein Swimming-Pool, stellt sie amüsiert fest.

Die Mutter einer Hochleistungssportlerin erinnert sich an das Denkmal von Marx und Engels , weil es die beiden historischen Gestalten seien, die ihr Leben am meisten geprägt hätten. Die Mutter windet sich hörbar: Zwar seien sie und ihre Tochter auch abgehört worden und es habe "ein paar Schweine" gegeben. Auch habe man ihre Tochter gedopt. Dennoch versichert die Frau, die Verantwortlichen hätten ja auch aus gutem Willen gehandelt. Und "dass die Grenze kam", das habe der Walter Ulbricht ja nicht aus Spaß gemacht, "da waren ja andere schuld".

Das Projekt 50 Aktenkilometer macht DDR-Geschichte lebendig. Das Erzählen mit Hilfe von ortsgebundenen Hörschnipseln funktioniert hier viel besser als beim Vorgängerprojekt Verwisch die Spuren .

Das liegt vor allem daran, dass 50 Aktenkilometer über weite Strecken mit dokumentarischem Material und echten O-Tönen erzählt. Das Theaterkollektiv Rimini Protokoll bat dazu Berliner, von der Einsicht in ihre Stasi-Akten zu berichten, und es hat Bänder aus der Telefonzentrale des Zentralen Operativstabs des Ministeriums für Staatssicherheit gesichtet. Die aufwendige Recherche ist der Arbeit anzumerken.

Tolle Fundstücke sind die Mitschnitte dieser dienstlichen Telefonate, vermitteln sie doch den piefigen, manchmal fast betrunken klingenden Duktus, der die Berichte der Genossen wie Satire wirken lassen würde, wären sie nicht so böse. Eilfertig und brav wird Bericht erstattet, permanent Verantwortung delegiert und ein persönliches Schicksal gelassen in sprachakrobatisches Verwaltungsdeutsch überführt.

Ein Bespitzelter muss selbst schmunzeln, als er in seiner Akte über eine detaillierte Verfolgung im Zuge einer Fahrraddemo liest: "Rad 3" nimmt noch ein Getränk zu sich. "Rad 1" und "Rad 2" gehen auseinander, nachdem sich "mittels Winken verabschiedet wurde". Kommentar des Überwachten: "Total sinnlos, als hätte das den Sozialismus retten können."

Der Hörer erfährt während seiner Wanderung allerhand Details aus dem Überwachungsalltag. Seine Lauscher begrüßte man beispielsweise am Telefon und wünschte noch einen guten Tag. Auch konnte sich ein Vertreter des kirchlichen Friedenskreises einer Bespitzelung sicher sein, was er unter anderem daran bemerkte, dass er nach jedem Umzug innerhalb von drei Monaten ein Telefon bekam. Normale Bürger warteten mitunter zehn Jahre darauf.

Zusätzlich hat Rimini Protokoll einige spielerische Elemente eingebaut. So schicken Mitarbeiter von der Kommandozentrale gelegentlich Kurznachrichten mit Handlungsanweisungen wie "Treffen um 17 Uhr an der Weltzeituhr" oder "Bleib an der Ampel stehen und schau auf das Haus gegenüber". Sie sollen ein wenig Paranoia heraufbeschwören und die Stimmung erlebbar machen. Dazu gibt es auch ein paar im Studio produzierte Passagen mit Sounds oder Handlungsanweisungen, die etwa dazu auffordern, seinerseits Passanten zu beobachten.

Außerdem können andere Teilnehmer verfolgt werden, denn sie zuckeln als rote Kopfhörer-Punkte über die Handy-Map. Von der Kommandozentrale aus kann man sie sogar belauschen – wer will, kann sich an einem frei wählbaren Punkt dazuschalten und der Einspielung zuhören, die jemand an dieser Station gerade im Kopfhörer hat.

Die Stärke dieses ortsgebundenen Hörspiels liegt aber weniger darin, dass der Verfolger zum Verfolgten wird, der Lauschende zum Belauschten, auch wenn sich trefflich über den doppelten Boden dieser Spielerei philosophieren ließe. Die eigentliche Stärke liegt vielmehr in dem dokumentarischen Material und in den Erzählungen der Protagonisten, die das Theaterkollektiv gefunden hat. Vielleicht hätte es die konkreten Orte dafür nicht einmal gebraucht. Manchmal ist es fast ärgerlich, dass die Erzählung eben nicht wie ein normales Hörspiel weiterläuft, wenn der dafür vorgesehene Sendeplatz verlassen wird.

Das soll nicht heißen, dass dieses Hören im Gehen keinen Mehrwert böte, im Gegenteil, es ist ein ziemliches Vergnügen. Wenn etwa die ausreisewillige Frau aus dem Pressecafé die Geschehnisse ihres Winters 1985 rekonstruiert, bekommt das eine besondere Wahrhaftigkeit. Erleichtert erfährt der Hörer dann, dass auch der Mann ihr wenig später in den Westen folgen durfte. Seine Ausreisegenehmigung trug den gleichen Datumsstempel wie ihre Papiere. Die Stasi hatte sie nur auf die Probe gestellt.

AB MITTE JUNI AUCH ZUM HERUNTERLADEN
Das begehbare Stasi-Hörspiel ist ein Projekt von Rimini Protokoll und wird finanziert von Deutschlandradio Kultur, dem Theater Hebbel am Ufer und dem Berliner Senat. Es läuft noch bis zum 13. Juni 2011, die Geräte können am Startpunkt am Fernsehturm gegenüber der Rathauspassage ausgeliehen werden. Ab 14. Juni wird das Stück auch als App für Android- Handys kostenlos zum Download angeboten.

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