Spaziergang im Denkschritt

Indisch-deutsches Telefonstadtführungstheater von Rimini Protokoll

Von Doris Meierhenrich

05.04.2005 / Berliner Zeitung

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte" will uns der Fotofix-Automat im Untergeschoss der Potsdamer-Platz-Arkaden weis machen. Es ist die vorletzte Station auf der theatralen Stadtführung "Call Cutta". Weil der Stadtführer, der über Handy zugeschaltet ist, einem Zeit lässt, schiebt sich ein anderer Satz aus der Erinnerung darüber: "Ein Foto kann nicht sagen, was es zeigt." Roland Barthes schrieb ihn und fand die Kraft des Fotos gerade darin, dass es selbst nichts sagt. Das "Mehr", das ihm angedichtet wird, fließe aus dem unermüdlichen Deutungsdrang des Betrachters.

Aus dem subtilen Wechselspiel von De- und Remythisierungen spinnt das Künstlertrio Rimini Protokoll beständig einen unsichtbaren Ariadnefaden, den es durch all seine halb transparenten, halb verschleierten, zwischen Dokumentation und Fiktion tänzelnden Recherche-Theaterprojekte legt.

"Call Cutta", das ultimativ "globalisierte" Theaterprojekt, beginnt am HAU2. Der Zuschauer wird mit Handy und Kopfhörern bewaffnet, wartet auf einen Anruf aus dem Niedrigtelefontarif- und -lohnparadies Indien und macht sich unter den Anweisungen des freundlichen Call-Agenten auf eine Entdeckungsreise vom Halleschen Ufer über Kalkutta zum Potsdamer Platz. Was ihm auf struppigen Grünflächen und Hinterhöfen begegnet, darüber mag er sich die Augen reiben: Wer erwartet schon, in Kreuzberg über Relikte deutsch-indischer Geschichte zu stolpern? Man spaziert zum Beispiel querfeldein von einer Mülltonne zur einer Mauerecke, an der Fotos kleben, die den indischen Nationalhelden "Netaji" ("Führer") Bose zeigen: erst neben Gandhi, dann neben Hitler. Der indische Berlinexperte am Telefon erklärt Boses Bedeutung im indischen Befreiungskampf gegen die britischen Kolonialherren, auch ein Pakt mit Hitler war dafür gut.

"Call Cutta" ist Forschungspfad, Butterfahrt und imaginiertes Kopftheater in einem. Das Faszinierende daran ist, das es bei jedem (Denk)-Schritt, seine Rolle rückwärts immer gleich mitliefert.

Der Berlin-Experte aus Kalkutta, der sonst Kreditkarten nach England verkauft, kennt die Stadt nur von Fotos und vom Stadtplan, doch scheint ihm jeder Baum Berlins vertraut. Wie ein Marionettenspieler führt er seine Kundschaft mal schmeichelnd mal antreibend durch die unbekannten Ecken und füllt die Brachflächen mit wahren und zweifelhaften Geschichten.

Wahr ist der tragische Strang des "Netaji", des globalen Handlungsreisenden in Sachen indischer Befreiungskampf. Und plötzlich pfeift auch diese Geschichte über die unkrautbewachsenen Mauerreste des zweiten Weltkriegs in Berlin. "Call Cutta" nivelliert die Geschichten nicht, sondern entlarvt, dass Nivellierung der Kern "globalisierten" Handelns ist. Die Steinbrocken am Boden, können wie die Fotos nicht sagen, was Bose mit Hitler verband. Wohl aber sind sie Wegmarken auf dem Gang ins semantische Grenzgebiet von Macht und Gewalt. Eindimensional ist nichts.

Call Cutta bis 26. Juni, tgl. außer Mo. u. Di., 15.30 -19.30 Uhr, T.: 25900427

 


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Call Cutta