Lausch-Läufer mit Kopfhörern und Handy auf den Spuren der Stasi

Von Katrin Pauly

19.05.2011 / Morgenpost

Diese großen schwarzen Kopfhörer, die sehen schon mal verdächtig aus. Verdächtig nach denen von Ulrich Mühe in „Das Leben der Anderen“. Wer hier, in der kargen Kontrollzentrale am Fernsehturm, in die Stadt lauscht, der hat jemanden im Visier. Objekt Nr. 2 zum Beispiel, das zeigt ein kleines rotes Kreuz auf dem Computerbildschirm, ist seit exakt 32 Minuten unter Observierung unterwegs.

Gleich wird ein weiteres Objekt auf der Karte erscheinen. Ich bin Nr. 42. Sobald mein GPS-Telefon eingeschaltet ist, wird jeder meiner Schritte anchvollziehbar sein.
Ausgestattet mit einer Übersichtskarte startet Nr. 42 vom Fernsehturm aus zu Fuß zum großen Lauschangriff auf Horch und Guck. Unter dem Titel „50 Aktenkilometer“ haben die Wirklichkeitsexperten der Theatergruppe „Rimini Protokoll“ in Berlin Mitte ein begehbares Stasi-Hörspiel eingerichtet. Und das geht so: Über eine Website sind 125 akustische Wolken auf dem Stadtplan verteil, im Areal zwischen dem Brandenburger Tor im Westen, der Zimmerstraße im Süden und der gesamten Torstraße im Nordosten. Wer mit seinem in der Kontrollzentrale ausgegebenen GPS-Handy eine dieser virtuellen Info-Blasen durchläuft, bekommt automatisch das dazugehörige Hörstück auf den Hörer gespielt. Nr. 42 zum Beispiel hat sich entschieden, die Karl-Liebknecht-Straße Richtung Torstraße raufzugehen, damals besser bekannt als Wilhelm-Pieck-Straße, dabei die Galeria Kaufhof passierend. Reges Feierabendshopping draußen, im Kopf läuft ein anderer Film, der spielt am 12. März 1989: Hauptmann Fischer meldet dem Zentralen Operativstab des MfS gerade einen Angriff auf das „Centrum Warenhaus“ mit Stichwaffeneinsatz. Weiter oben, auf Höhe der Bundesbehörde für Stasi-Unterlagen sind wir akustisch live dabei, wie Diplomatentochter Ulrike Steglich in der Behörde ihren Antrag auf Akteneinsicht ausfüllt und wie Peter Bobrowski seine Akten einsieht. Das hat höchstmögliche Authentizität, weil jedes Hörstück jeweils mit dem Ort korreliert, an dem sich der Spurensucher gerade befindet.
Rund hundert Betroffene oder zumindest Involvierte, auch IMs, befragte Rimini Protokoll. Wollte man alle der in Kooperation mit Deutschlandradio Kultur und dem Theater Hebbel am Ufer entstandenen Audioschnipsel hören, bräuchte man rund zehn Stunden. Zehn Stunden Observationsberichte, Operativpläne, biografische Schicksalsmomente, Gedächtnisprotokolle und Originaltöne. In den individuellen Schicksalen oft berührend, in den offiziellen Mitschnitten und Protokollen von unfreiwilliger Komik. Stasi-Sprech und Überwachungsbeamtenmentaliät treiben hier die schrägsten Blüten, wenn dienstbeflissen noch die Sichtung eines banalen herzförmigen Luftballons in der Nähe des ehemaligen Palasthotels minutengenau gemeldet wird. Heute sitzt dort das schicke Radisson Blu Hotel und die vier japanischen Geschäftsleute, die eben herauskommen, können sich kaum eine Vorstellung machen über die Ausmaße des Funkverkehrs, die „BRD-Mann Herr Rau“ 1988 auslöste, als er unangemeldet mit seiner Delegation das Hotel aufsuchte und auch nicht von der Romanze zwischen Mario und seiner westdeutschen Geliebten, die das Palasthotel als Liebesnest nutzten. Wahrscheinlich sind auch sie beobachtet worden, wahrscheinlich werde auch ich beobachtet. Jeder in der Kommandozentrale, auch jeder zufällige Besucher, sieht, wo sich Nr. 42 gerade aufhält und kann mir Nachrichten schicken. Ab und zu kommen abstruse Meldungen rein, in scharfem Ton noch die harmloseste Info: Meldung 1: „Es regnet.“ Meldung 2: „Unterstellen!“ Gelegentlich trifft man andere Lausch-Läufer, kurzes konspiratives Nicken unter Eingeweihten.
Auf sehr anregende Weise findet Geschichte hier den Weg aus staubigen Aktendeckeln miten auf der Straße und man findet es, angesichts von Google, Apple & Co. ganz beruhigend, dass GPS-Technik nicht immer perfekt funktioniert. Bei der von der Stasi organisierten Überwachung dagegen, das macht diese Ortserkundung deutlich, war von flächendeckender Perfektion und Perfidie auszugehen.

Bis 23. Juni, individuelle Startzeit, Karten und Infos beim HAU, Tel. 25900427
 


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