Jeder trägt seine Geheimnisse mit sich

Von Alexandra Kedves

25.06.2017 / Tagesanzeiger.ch

www.tagesanzeiger.ch

Wenn Sie wüssten, dass morgen die Welt untergeht, würden Sie das bloss Ihren Lieben verraten, oder würden Sie damit an die Öffentlichkeit treten, trotz des Risikos einer Massenpanik?

Gar keine einfache Frage. Schon gar nicht, wenn man da im Canaletto-Zimmer des Kunsthauses Zürich auf dem Bänkchen hockt und Menschen mit Kopfhörern um einen herumschlendern und mit diesem verlegen-lüsternen Blick mustern, den man für fremde Seltsamkeiten übrig hat, die einen im Grunde rein gar nichts angehen, aber eben doch faszinieren. Ich überlege, entscheide. «Sie halten also nichts von diplomatischer Verschwiegenheit. Stehen Sie auf, und drehen Sie dem Botschafter auf dem Canaletto-Bild den Rücken zu. Betrachten Sie jetzt die Leute, die vor Ihnen auf der Bank sitzen. Die haben sich für die Geheimhaltung entschieden», sagt die Stimme in meinem Kopfhörer. Ich betrachte, ja mustere sie mit besagtem ­verlegen-lüsternem Blick. Weiter gehts, in den nächsten Raum, zur nächsten Entscheidung.

«Würden Sie zur Bestechung greifen, um jemanden zu verleiten, ein wichtiges Geheimnis zu verraten?» Würden Sie? Bei «Nein» landet man vor Mattia Pretis monumentaler barocker Vision von Orpheus und Eurydike in der Unterwelt: Man sei so «unschuldig» wie Orpheus’ Geige. Ich dagegen werde zu einer brutalen Entführungsszene gelotst: Zentaur Nessos raubt Herakles’ Frau, und der Heros schickt einen vergifteten Pfeil hinterher. Alles wird bekanntlich in einem Blutbad enden.

Spione, Beobachter, Taktiker

Etwas später resümiert denn auch der ehemalige Präsident des deutschen Bundesnachrichtendienstes, Gerhard Schindler, in mein Ohr: «So gern man es hätte, es gibt keinen sauberen Nachrichtendienst. Das ist immer ein schmutziges Geschäft.» Die Computerstimme sekundiert, dass nicht klar ist, ob uns der Geheimdienst schützt oder wir uns eher vor ihm schützen müssen.

Genau darum gehts in der neuen Arbeit des Dokumentarkollektivs Rimini Protokoll mit dem Titel «Top Secret International (Staat 1)». Sie wurde an den Münchner Kammerspielen fürs Skulpturenmuseum Glyptothek entwickelt und jetzt für die Sammlung des Kunsthauses Zürich angepasst, in Kooperation mit dem Schauspielhaus. Die schweizerisch-deutsche Gruppe hat sich mit ihrer Expertise in Sachen Expertentheater einen Namen gemacht; und im knapp zweistündigen «interaktiven Audiowalk» durchs Museum werden die Experten ab Band eingespielt. Wie der Ex-Chef des BND.

Zu Wort kommt auch Konfliktforscher Kostas Tsetsos von der Bundeswehr-Universität München, der glaubt, dass jeder Mensch ein Spion sei, beobachte, Annahmen über andere mache und taktisch agiere, auch lüge, um zum Ziel zu kommen. Dazu konfrontiert Rimini Protokoll den Besucher mit ungemütlichen Fragen wie «Hast du schon mal einen Freund verraten?» oder «Weisst du etwas, das jemand anderen erpressbar macht?» Zwischendurch berichtet der ehemalige CIA-Mitarbeiter John Kiriakou, der seinerzeit die Welt über die US-Folter informiert hatte, wie sie ihn einst in den CIA gelockt hatten. Mittlerweile werden Geheimdienstjobs öffentlich ­beworben – mit stabiler Nachfrage und familienfreundlichen Extras. Der Museumsbesucher darf auf eine Schnupper-Spionagetour nach Libyen.

Museumsmuffel mit leuchtenden Augen

Der frühere israelische Botschafter in Deutschland, Avi Primor, ist überzeugt, dass es ohne Geheimdienste auch keinen Krieg gäbe: Ohne sie nämlich könnte sich keiner ein Bild vom Risiko des Konflikts machen. Wir hören Primor zu, während wir in der Abteilung «Alte Meister» den sterbenden Jesus anschauen und die halb nackten Flehenden vor der Seelenwaage, am Jüngsten Tag. Der Sprecher einer IT-Company, die Regierungen mit Überwachungstechnologie beliefert, spricht hingegen vom «Notfallkoffer» gegen Terroristen. Der sei angesichts der Bedrohungslage «vertretbar und legitim», auch wenn bisweilen die Menschenrechte auf der Strecke blieben.

Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel (Konzept, Text, Regie) entwarfen «Top Secret» als Folge I einer vierteiligen Analyse «postdemokratischer Phänomene» von heute. Doch derweil man encharmiert seine circa 1000 Schritte tut, die Bilder geniesst, die Zitate reflektiert und bewundert, dass das mit der Technik tatsächlich bei jedem Kopfhörerträger klappt, stellt man fest: Analytisch bleibt der Gewinn gering. ­Dafür kommen nach dem erschreckend ergötzlichen Streifzug durch unser Überwachungswesen sogar erklärte Museumsmuffel im Teeniealter mit leuchtenden Augen aus dem Kunsthaus.

 

 


Projekte

Top Secret International (Staat 1)