In einem anderen Licht

"Zeugen!" im HAU Zwei: ein Strafkammerspiel von Rimini Protokoll

Von Doris Meierhenrich

12.01.2004 / Berliner Zeitung

Die Sonne bringt es an den Tag" steht eingemeißelt am Moabiter Landgericht. Als sei die Sonne in die Inneneinrichtung abgerutscht, hängt eine riesige Stuck-Rosette an der Bühnenwand im HAU 2. Stück für Stück zimmern unter ihr acht Menschen einen Sitzungssaal der Moabiter Justizanstalt zusammen und verhandeln nebenbei die Architektur der Rechtsprechung.

Auch in seiner neuen Recherche-Performance "Zeugen"!, die am Sonnabend Premiere hatte, macht sich das Regieteam Rimini Protokoll auf die Suche nach dem, was gewohnheitsmäßig "Wirklichkeit" genannt wird: das Strafgericht. Wie schon in früheren Feldforschungen über die Demokratie ("Deutschland 2") oder das Sterben ("Deadline") verwandelt das Team auch hier die Methode der Sozialstudie in ein künstlerisches Heilverfahren. Für ihr "Strafkammerspiel" haben Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel im Gericht Moabit recherchiert, mit Prozess-Beteiligten gesprochen und für ihr dokumentarisch-fiktives Nachspiel "echtes" Justiz-Personal akquiriert. Nun trifft juristischer Sachverstand auf bilderreich komponiertes Theater.

Ein passionierter Beobachter behauptet, Gerichte ähnelten Kirchen, eine Postbeamtin meint, als Schöffin ihren gesunden Menschenverstand gebrauchen zu können, zuhause repariert sie Spitzendeckchen, ein Tischler erklärt die nach Rang geordneten Stuhlhöhen, eine Gerichtszeichnerin zeigt ihre "realistischen" Skizzen mit Blicken zwischen Richtern und Angeklagten, die sie selbst mit "unangenehm" oder "tragisch" betitelt. Jeder Fachausdruck, jedes Wort, jeder Gegenstand schillert plötzlich in gegenteiliger und doppelter Bedeutung.

Treffsicher verrutscht in den Händen von Rimini Protokoll die künstliche Prozess-Wirklichkeit in einen enthüllenden Kunstprozess, faltet sich Abstraktes in sein konkretes Motiv zurück und zeigt sich das Nächstliegende in Randbemerkungen. Während sich die Beteiligten vorstellen, beginnt die Verhandlung: Gängige Anklagen werden verlesen, typische Körperhaltungen von Zeugen und Angeklagten nachgestellt, Fotos, die als Beweise gelten, unterschiedlich beschrieben.

"Zeugen" ist kein Diskurstheater, sondern ein intelligentes, bilderreiches Laboratorium, ein sozialkritisches Anatomie-Schauspiel unter der Flagge Foucaults. Die Bestrafungsordnungen werden kleinteilig an den Rändern festgesteckt, wie die Schöffin es an einem ihrer Spitzendeckchen demonstriert. Der Prozess verliert sich in Detailbildern, Versprechern und Textlücken. Und genau in dem holprigen Laienspiel und den präzisen Auskünften, in den vielen Sachverständigenrollen und Spozialprognosen, an die sich jede Urteilsfindung selbst delegiert, enthüllt "Zeugen!", dass jedes Gericht immer auch über etwas anderes urteilt, als die Straftat.

Vorstellungen 13.-18.1., 20 Uhr; HAU2, Hallesches Ufer 32, Karten: 25 90 04 27.

 

 


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Zeugen! Ein Strafkammerspiel