100% Karlsruhe

- Eine statistische Kettenreaktion

Von Haug / Kaegi / Wetzel

Auf der politischen Bühne und ihren medialen Spielorten sind es Zahlen, die die Welt bedeuten, ist Gesellschaft ein flirrendes Gebilde aus gezählten, geschätzten, errechneten und „repräsentativen“ Werten: Am 31. Dezember 2009 lebten in Karlsruhe 291.959 Menschen. Die größten Gruppen der melderechtlich in Karlsruhe registrierten Ausländer kamen am 31. Dezember 2006 aus der Türkei (6.245) eine recht kleine aus China (1.363), es gibt 5% Karlsruher, die 5 Jahre und jünger sind, 19% sind 65 und älter. 46% Ledigen stehen 40% Verheiratete, 8% Geschiedene und 6% Verwitwete gegenüber.

Was wäre, wenn diese Statistiken Gesichter bekämen? Was, wenn Karlsruhe sich auf einer Bühne durch 100 Menschen vertreten ließe? Wie unterteilen sich 100 Karlsruher in Teilmengen, Szenen und Zielgruppen? Wie viele davon sind Lehrer, wie viele Topverdiener und wie viele arbeitslos? Wie viele davon zugewandert und wie viele Atheisten? Wie viele haben mit Bundesverfassungsgericht zu tun oder schon einmal Auswirkungen eines Urteils erfahren? Minderheiten und Mehrheiten werden in Zeitungen gerne mit Kuchenstücken oder Säulen anschaulich gemacht. In 100 Prozent Karlsruhe stellen Menschen sich selbst dar. Dadurch entsteht möglicherweise so etwas wie die temporäre Volksvertretung von Karlsruhe. Nicht durch Wahl, sondern durch Zugehörigkeit, die womöglich zufällig der Wahrheit entspricht. Wer hat schon je ganz Karlsruhe auf einer Bühne gesehen?

Für 100 Prozent Karlsruhe werden sich 100 Menschen auf der Bühne des Theaters vorstellen, 100 kleinste Einheiten der Gesellschaft, ein Querschnitt durch die Stadt, 100 Prozent Karlsruhe in einem Spiel mit dem Repräsentativen an einem schönen Ort der Repräsentation. Wer aber sind die 100 Karlsruher? Wie entsteht ein Querschnitt durch die Gesellschaft und wie kann er sich „darstellen“? Entgegen anderer Rimini Protokoll Projekte, in denen ein groß angelegtes Casting einer Arbeit vorausgeht, wird für 100 Prozent Karlsruhe nur ein einziger Mensch „gecastet“: eine Mitarbeiterin des Bundesverfassungsgerichts, das dieses Jahr 60 Jahre alt wird. Diese Person schlägt nach dem Prinzip der Kettenreaktion einen weiteren Teilnehmer aus ihrem Bekanntenkreis vor, der wiederum dafür sorgt, dass der nächste Mitspieler in das Team kommt, usw... Dabei wird die Auswahl zunehmend enger. Denn die Auswahlkriterien ergeben sich aus 5 Kategorien in der aktuellen Statistik von Karlsruhe: Geschlecht, Alter, Familienstand, Herkunft, Wohnbezirk. In diesen Kategorien sollen die 100 Darsteller auf der Bühne genau der Stadt Karlsruhe entsprechen.

Und wie dieser Bevölkerungsquerschnitt konkret aussieht, wie der Einzelne empfindet, entscheidet und lebt, das wird sich erst zeigen, wenn sich am 28. September 2011 der rote Vorhang des Staatstheater hebt – den es allerdings so nicht mehr gibt, denn aus ihm wurden - so die Legende – 1951 die ersten Roben der Richter des Bundesverfassungsgerichts geschneidert. 100 Prozent Karlsruhe ist eine Ansammlung, die eine Stadt ist, eine Gruppe, die sich erst wahrzunehmen beginnt, ein Chor, der noch nie geübt hat, ein unmögliches Gebilde mit vielen Gesichtern. Gruppenbilder als flüchtige Portraits von Zugehörigkeit. Als Familienersatz oder Kleinstverein. Nach Alter oder Wohnsitz, nach Geschlecht, politischer Gesinnung sortiert, in Meinungen, Haltungen, Überzeugungen und Erfahrungshorizonte gestaffelt dann, nach und nach, als Stimmenmeer, als geometrischer Körper auf mehr als 100 Quadratmetern Bühne...

 

Zur 60 Jahrfeier des Bundesverfassungsgerichts / Spielzeiteröffnung KA 2011
100 Prozent Karlsruhe ist eine stadtspezifische Weiterentwicklung des Projekts 100 Prozent Berlin, Hebbel am Ufer / HAU, Berlin 2008.

Von Rimini Protokoll (Haug/Kaegi/Wetzel)
Regie: Helgard Haug, Stefan Kaegi, Daniel Wetzel
Bühne: Mascha Mazur / Marc Jungreithmeier
Licht / Video: Marc Jungreithmeier
Musik: Taxi Sandanski


Recherche und Assistenz / Koordinierung der Kettenreaktion: Michael Nijs
Praktikantin und Koordinierung der Kettenreaktion: Julia Kuzminska, Nicole Dietz
Produktionsleitung / Dramaturgie: Jan Linders / Michael Nijs

28.09.2011 11.00h im Rahmen des Festakts 60 Jahre Bundesverfassungsgericht
01.- 02.10.2011 20.00h

www.staatstheater.karlsruhe.de