Der Kontinent im Kopf: Rimini Protokoll lud zum „Hausbesuch Europa“

29.09.2016 / Tiroler Tagesspiegel online

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Wien (APA) - Wo endet die eigene Identität und beginnt Europa? Sieht man sich überhaupt diesem Kontinent, dieser gemeinschaftlichen Idee zugehörig? Und was würde man alles tun, um als Punktesieger das größte Kuchenstück zu erhalten? Das Kollektiv Rimini Protokoll spielt in „Hausbesuch Europa“ mit den Erwartungen des Publikums und entwickelte ein politisch aufgeladenes Gesellschaftsspiel der anderen Art.

Derzeit kann man das anlässlich der Saisoneröffnung im brut Wien in der Bundeshauptstadt am eigenen Leib erfahren. Bis 9. Oktober wird täglich in jeweils zwei Wohnungen geladen, wo die Gastgeber (mit Unterstützung des Teams) den Tisch bereiten für ein Kennenlernen, kurzes Beschnuppern und alsbald eifriges Plaudern sowie Erzählen über jene Gemeinschaft, der wir doch irgendwie alle angehören - oder nicht? Bei der Premiere am Mittwoch wurde dabei ein Zimmer in Wien-Wieden zum Schauplatz nicht immer ernst gemeinter politischer Verständigung.

Um den Tisch ist rund ein Dutzend Spieler versammelt, dezent im Hintergrund hält sich die Spielleiterin. Wie das hier ablaufe, wo man seinen Namen eintragen könne und was es mit dieser riesigen, selbstgezeichneten Karte von Europa auf sich hat, erfährt man bereits in den ersten Minuten. Den Rest muss man schon selbst erledigen, wird man doch reihum gebeten, auf einer kleinen technischen Konstruktion mit Lautsprecher und Rollendrucker einen Knopf zu betätigen - flugs erscheint ein Zettelchen, mal von der Größe eines Kassenbelegs, dann wieder ziemlich lang und mit entsprechend ausführlicher Anleitung.

„Wer hat Angst vor der Zukunft?“, „Wer war oder ist ein Parteimitglied?“, „Wer findet die Menschen in dieser Runde vertrauenswürdig?“: Es sind prinzipiell einfache Fragen, die aber ein ums andere Mal zu kurzem Zögern führen, meist gefolgt von Gekicher. Sukzessive lässt man sich aber darauf ein und erforscht in der Runde weit mehr als nur Vorstellungen über Europa oder die EU. Auch um Konfliktlösung und Entscheidungsfindung geht es in diesen knapp zwei Stunden, die so gar nichts mit einer klassischen Performance zu tun haben und in denen schon mal gemeinsam die Spielunterlage „abgehört“ wird.

Je länger der „Hausbesuch“ dauert, umso mehr erfährt man über sich und die kurzzeitigen Kollegen, riecht man mit der Zeit den Kuchen im Ofen immer stärker seinen Duft entfalten und wird man zum Ende hin in Gruppen aufgeteilt, die im Wettstreit um Punkte das gegenseitige Verhalten erraten müssen, Allianzen schmieden können oder auch ihre Rachegelüste ausleben dürfen. Wer in dieser Hinsicht ganz viel Glück hat, darf sich sogar im Armdrücken versuchen. Da ist man schon beinahe am Ende jener fünf Levels, die es zu meistern gilt, angelangt. Mit welch einfachen, dabei aber technisch sehr ausgereiften Mitteln das Rimini Protokoll diese amüsante Rundreise gestaltet hat, macht Staunen.

Zum Schluss ist man nicht unbedingt schlauer, gereifter oder einer Eingebung gleich plötzlich solidarischer mit anderen - denn statt einem „Richtig oder Falsch“ ist es das grundlegende Durchspielen von Situationen, das Austauschen von Erfahrungen und das in sich Hineinhören, das der „Hausbesuch Europa“ fördert. Man entdeckt den Kontinent im Kopf, dafür aber in all seinen Facetten. Und spätestens wenn der Kuchen am Tisch steht und angeschnitten wird, sind allfällige Meinungsverschiedenheiten (sofern überhaupt vorhanden) ohnehin wieder Geschichte...


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