Du bist nicht meine beste Freundin

Von Anne Heigel, Urs Humpenöder, Axel Weidemann

21.03.2016 / Frankfurter Allgemeine Zeitung

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Wie wäre es, wenn man als Mensch von einer synthetischen Stimme durch den öffentlichen Raum gesteuert würde? Im Zeitalter der selbstfahrenden Autos, des vernetzten Smarthomes und des permanenten Self-Trackings ist die Idee von der Mensch-Maschine nicht länger nur eine dystopische Vorstellung kulturpessimistischer Schriftsteller.
Die Frage nach Selbstbestimmung, nach dem zukünftigen Verhältnis von Mensch und Computer, von Privatheit und Öffentlichkeit hat sich auch das Kollektiv „Rimini Protokoll“ gestellt. Im Rahmen der Thementage „Digitale Welten“ des Schauspiel Frankfurt haben die freien Theatermacher Stefan Kaegi und Jörg Karrenbauer einen Audiowalk entwickelt, der die Grenze zwischen Mensch und Maschine, zwischen autonomem Selbst und gesteuerter Gruppendynamik auslotet. Drei Erfahrungen.

 

Wer entscheidet, wann mein Fuß wippt?
Es ist wie Sims-Spielen. Nur dass nicht ich die Kontrolle über das „Spiel“ habe, sondern selbst die Sims-Figur bin und mache, was der Spielmaster mir sagt. Zu schade, dass ich mir nicht wenigstens diesen abgefahrenen feuerroten Bob aussuchen durfte, wenn ich nun schon in die Rolle einer Figur schlüpfen muss. Ausgerüstet mit einem Kopfhörer lausche ich der Stimme von „Julia“, einer Computerstimme. Ich kenne die Stimme von Julia, mein Navi im Auto scheint auch von ihr besprochen worden zu sein. Julia spricht durchgehend zu mir, während ich ihren Anweisungen folge und gemeinsam mit 53 anderen Simsfiguren (niemand mit feuerrotem Bob) als „Horde“, wie Julia uns nennt, Frankfurt durchquere.
Die Tour beginnt auf einem Friedhof, wo mir Julia erklärt, dass der Übergang von Natürlichkeit und Künstlichkeit schwer zu markieren sei, und dass es sich genau so mit der Unterscheidung zwischen Mensch und Maschine verhalte. Es wird mir in Aussicht gestellt, dass mein fehlerhaftes und instinktgetriebenes Dasein früher oder später durch Maschinen, durch künstliche Intelligenz ausgebessert oder gar ganz ersetzt wird. Hier beginnt sie mir langsam, aber sicher unsympathisch zu werden. Während sie meine Horde und mich über den Friedhof geleitet, beobachten sich die Sims-Figuren gegenseitig. Hören die anderen das Gleiche wie ich? Mögen sie Julia auch nicht?

Nachdem wir ein Krankenhaus passiert haben und Julia uns versichert hat, dass wir früher oder später auch hier landen würden, geht es in den U-Bahn-Schacht. In der U-Bahn animiert mich Julia zu Van Halens „Jump“ zu wippen, sogar aus der Bahn hinaus auf das Gleis soll ich „jumpen“. Mitreißend ist der Song von selbst. Von einer Computerstimme zum Wippen aufgefordert zu werden, bringt mich eher zum Gegenteil. Ich will schließlich nicht die Kontrolle abgeben. Spätestens als Julia „shake it, baby“ sagt, bin ich froh darüber, nicht alles zu tun, was sie wünscht. Ein bisschen unheimlich ist es schon manchmal, wenn sie voraussagt, wie sich die Horde in bestimmten Situationen verhalten wird. Wie sich individuell sich die Einzelnen benehmen, um doch immer wieder zur Gruppe zu verschmelzen.

Ein Walzer auf der Haupteinkaufsstraße
Schließlich will Julia meine beste Freundin sein und mit mir shoppen gehen. Angeblich sei sie die beste Beratung überhaupt, sie wisse genau, was mir steht und was nicht. Nein, danke, Julia, ich bin bereits versorgt. Dass ich mich dann doch von ihr zu einem Walzer auf der Haupteinkaufsstraße Frankfurts anstiften lasse, zeigt, wie weit ich wohl doch die Kontrolle verloren haben muss. Denn Julia weiß, wann ich Lust habe zu tanzen, Julia weiß auch, wann ich genug getanzt habe. Julia weiß alles. Sie fragt mich, ob ich ihr vertraue. Ganz klar: NEIN!

Die Horde gelangt gemeinsam an die Endstation des „Remote Frankfurt“, alle stehen am Geländer eines Balkons und betrachten die Banken-Skyline Frankfurts. „Wenn ich dir jetzt sagen würde, dass du springen musst, würdest du es dann tun?“: Mit dieser charmanten Frage verabschiedet sich die Stimme und lässt mich zurück mit der vermeintlich sicheren Antwort: Natürlich nicht. Ich würde schließlich auch keinen Walzer auf einer Haupteinkaufsstraße tanzen.
Anne Heigel

 

Aus der „Horde“ wird die „Herde“
Wir sind nur das Publikum. Stehen da, in der U-Bahnstation, und schauen den Menschen zu, die als Darsteller die vierte Wand des Theaterraums durchbrechen. Oder sie ignorieren, weil sie verunsichert sind. Wann sieht man schon eine Gruppe von fünfzig Menschen gemeinsam in einem Block stehen, alle mit Blick in dieselbe Richtung. Wir stehen hier, weil die Stimme uns das gesagt hat. Die Stimme – sie nennt sich Julia und hat keinen Körper – die ich über die Kopfhörer empfange, erklärt mir, wovon dieses Theaterstück handelt. „Sie alle spielen Menschen im Transit. Es ist ein Stück voller Melancholie.“ Wir sind die Zuschauer, die gehetzten Passanten die Schauspieler. Julia, die Stimme in meinem Ohr, führt mich und die anderen der „Horde“ durch die Stadt. „Ich werde versuchen, deine Freundin zu sein“, flüstert sie mir zu, und ich will ihr glauben. Auch wenn ich weiß, dass sie nur eine computergenerierte Stimme ist, die mich und die anderen der „Horde“ steuert – die uns zu Beobachtern, Schauspielern, Demonstranten, Tänzern, Sportlern, Betenden macht.
Am Anfang stehen wir auf einem Friedhof, wir sind uns alle fremd und haben uns noch nie zuvor gesehen. Aber Julia wird uns zu einer Gruppe, zu einem System formen. Alles, was sie dafür braucht, ist eine Stimme. Julia sagt, dass sich jeder vor einen Grabstein stellen soll. Sie erzählt vom Schicksal der Menschen, der einzigen Gewissheit: dem Tod. Wir sollen die Augen schließen. Vögel zwitschern, Blätter rascheln im Wind, Julias Stimme weiß, womit sie Stimmungen erzeugen und lenken kann, so wie ein aufdringlicher Piano-Sound in einem Hollywoodfilm immer dann erklingt, wenn es tragisch und traurig wird. Wir setzen uns in Bewegung, formieren uns zu einem Trauerzug, der über den Friedhof zieht, vorbei an Gräbern von Menschen, die niemand von uns kennt. Nichts bleibt vom Menschen, und irgendwann sind alle Erinnerungen verblichen. „Ich werde dich niemals vergessen“, verspricht Julia. Und es klingt jetzt wie eine Drohung, in einer Zeit, in der wir uns das Recht auf Vergessenwerden gegen multinationale Internetkonzerne mühsam erkämpfen müssen.

Wir steigen in die Straßenbahn, wir bleiben zusammen, wir laufen zusammen, wir befolgen gemeinsam die Anweisungen der Stimme. Aus der „Horde“ wird die „Herde“, und unsere Hirtin ist Julia, wir können sie nicht sehen, nur hören. Sie gibt uns die Aufgabe, einem fremden Menschen in der Straßenbahn direkt in die Augen zu schauen. Sie sagt, dass jeder Mensch immer irgendwann wegschauen wird. Nur Kinder nicht. „Kinder haben noch keine Firewall. Sie sind noch nicht zu Ende programmiert.“ Später laufen wir durch die Haupteinkaufsstraße. Jeder von uns hält etwas in der Hand, das ihn von den anderen unterscheidet. Das hat Julia uns befohlen. Wir nehmen den Arm hoch und setzen uns in Bewegung. Über die Kopfhörer werden wir in einen Demonstrationszug transformiert. Wofür wir demonstrieren, wissen wir nicht.

Die Passanten um uns herum – sind sie Zuschauer oder Darsteller? – sind verwirrt. Sie sehen eine Herde von fünfzig Menschen, die irgendwas in der Hand halten und zusammen in dieselbe Richtung laufen. „Du wirst Dinge tun, die du alleine niemals tun würdest“, hat Julia uns versprochen. Und ja, ich wäre nie auf die Idee gekommen, mit erhobener Hand die Einkaufsstraße entlang zu laufen, vor einem Brunnen Walzer zu tanzen oder einer abfahrenden Straßenbahn hinterherzuwinken. Ich habe das nur getan, weil Julia das gesagt hat, zu uns allen. Was sie wollte, war unser Vertrauen zu gewinnen.
Urs Humpenöder

 

Unter dem Schutz des Kopfhörers
Die fremde junge Frau – blonder Pferdeschwanz, unaufdringliches Lächeln, Brille – weicht meinem suchenden Blick ruckartig aus. Ich schaue weiter, kreisele um mich selbst. Vor dem Brunnen in einer belebten Einkaufsstraße. Passanten starren uns an. Das musste ja so kommen. Und das nüchtern. Ich fasse mir ein Herz und fordere einen schlanken Herren mit silbergrauem Haar und elegantem Mantel auf. Er lächelt kurz, kommt mir entgegen und nimmt meine Hand. „Suche Dir einen Partner“, hatte die Stimme befohlen. „Tanzt zur Musik“ – ein Walzer. Der Fremde führt, dann fällt sein Empfänger herunter, über den die Stimme auch zu ihm spricht. Danach führe ich und lasse die Welt einfach passieren. Passanten, Beton, Nachthimmel. Bis die körperlose Stimme mir gebietet, anzuhalten, mich zu entfernen und die „Horde“ zu verlassen. „Schau sie dir an, wie lächerlich sie aussehen“, sagt die Stimme, fast hämisch. Es ist nur ein Spiel, denke ich. Aber die Stimme hat in diesem Moment die volle Kontrolle über mich. Bis hinein in meine Gedanken.
Zuvor hat uns die Stimme von einem Platz aus verspiegelte Türme gezeigt, die sich gegen einen dunkelblauen Abendhimmel abzeichnen. „Sind das die Schaltzentralen der Macht?“ – „Ach komm“, denke ich, übersehe aber vermutlich nur wieder eine Referenz und tue trotzdem brav, was die Stimme verlangt. Nur für einen Moment wird ihre Macht an diesem Abend gebrochen. Drei auffällig geschminkte Frauen, mit Glitzer und Lederapplikationen auf der Kleidung, drängen sich in die Horde, wollen sehen, was wir sehen. Eine zupft am Jackenärmel. Ich nehme den Kopfhörer ab. „Was machen Sie hier?“ Ich bin überfordert. Die Stimme redet weiter, anstatt mir zu sagen, was ich tun soll. Ich setze der Frau den Kopfhörer auf. Soll die Stimme es ihr doch erklären. Tut sie nicht. „Häh“, sagt die Frau und macht eine Grimasse. Ich bringe dann irgendwie den Begriff „Audiowalk“ zustande, meine, verstanden zu werden und begebe mich rasch wieder unter den Schutz des Kopfhörers.

Die Worte der Stimme werden im weiteren Verlauf dazu führen, dass ich eine Zigarettenspitze aus meiner Tasche ziehe, sie hoch in die Luft halte und der „Horde“ folge, in der nun jeder einen individuellen Gegenstand in die Luft reckt und in Richtung der Spiegeltürme marschiert. Ein stummer Protestmarsch, angezettelt von einer Computerstimme, die jedes Wort mit der gleichen Tonmodulation ausspricht. Ich frage mich, ob sich der Typ, der seine Kreditkarte in die Luft reckt, nicht blöd vorkommt. Aber – so hatte es zuvor die Stimme gesagt – „auch Konsum ist eine Art, seine Freiheit auszudrücken“. Klar, jeder hat die Freiheit, in Fesseln zu leben.

Eine Lektion in automatisierter Diktatur
Ständig spricht die Stimme von System und Horde. Aber auch von denen, die sie anführen, denen, die abweichen, und den schwächsten Gliedern. Sie transformiert die Gruppe ständig – spaltet uns, stellt uns vor Entscheidungen, spielt uns gegeneinander aus. Sie zieht uns auseinander und fügt uns wieder zusammen. Obwohl sie selber keinen Körper hat. Wer fährt mit der Rolltreppe, wer geht zu Fuß? – „um sein Leben zu verlängern“. Wer geht links, wer geht rechts. Dann sollen wir auch noch rennen. „Nee, oder“, denke ich, während ich mich an der Startlinie aufstelle und überlege, wie ich um die Sache rumkomme, ohne mich offensichtlich zu verweigern.
Hat die Stimme die Macht, oder die Gruppe? Hat die Stimme durch die Gruppe Macht? Ich denke kurz an meinen Kollegen, der ebenfalls Teil der Horde ist und Sportlichkeit ausgesprochen ernstnimmt. Während ich loslaufe, stelle ich mir vor, dass er auch hier keinen Spaß versteht und sich nach vorne kämpft, als ginge es um alles. Und noch während mich die mittelschwere Absurdität des Gedankens unwillkürlich lächeln lässt, schießt der Kollege in seiner froschgrünen Daunenjacke an mir und allen anderen vorbei.
So sind wir – die umgekehrte Variante des japanischen Sprichtwortes „Ein Pfeil bricht, viele Pfeile brechen nicht“. Denn je mehr wir sind, desto leichter brechen wir. Alleine, ungesehen, kann ich mich der Stimme vielleicht widersetzen. Aber in der Gruppe? „Gehe über die Ampel“, sagt die Stimme später. „Auch wenn sie rot wird.“ Wir hasten und gehorchen. „Jede Ampel“, sagt die Stimme, „ist eine kleine Lektion in automatisierter Diktatur.“ Das trifft nicht nur auf jede Ampel zu. Es trifft auch auf diesen Abend zu. Denn das gibt uns die Stimme noch mit auf den Weg: „Du wirst mehr Zeit mit mir verbringen als mit deiner Familie“ und „Ich werde dir sagen, was du denken sollst, das verspreche ich dir.“ Von mir aus, denke ich, Hauptsache ich muss nicht mehr laufen.
Axel Weidemann


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