Kunst für das Nachempfinden

Parcours der Kriegsteilnehmer

Von Eva-Maria Magel

31.10.2013 / FAZ

Das Performancekollektiv Rimini Protokoll hat seine „Situation Rooms“ im Frankfurt Lab aufgebaut. In diesen Räumen wird der Besucher zum Akteur und durchlebt Szenarien über Krieg und Gewalt.

Nach seinem Einsatz in Sierra Leone, sagt der Chirurg Volker Herzog, ist er nachts nach bösen Träumen öfter aufgestanden. Um zu kontrollieren, dass seine Kinder wirklich noch beide Hände haben. Als Operateur im Auftrag von „Médecins sans frontières“ hat er wochenlang Kinder und Erwachsene versorgt, denen die Rebellen die Gliedmaßen abgehackt hatten. In seinem von einem Ventilator leidlich durchlüfteten winzigen Operationsraum am Connaught Hospital mitten in Freetown liegt Herzogs Chirurgenbesteck. Wer die Schublade darunter aufzieht, findet einen Stapel Fotos von Verstümmelten.

Es ist nicht das einzige Schockbild, das den Zuschauer von „Situation Rooms“ ereilt. Wobei „Zuschauer“ schon nicht das richtige Wort ist: Das Performancekollektiv Rimini Protokoll hat ein „Multiplayer-Videostück“ erarbeitet, das jeweils 20 Besucher mitten hinein in das Geschehen bringt. Obwohl es nicht zum Programm der Biennale des bewegten Bildes gehört, könnte es als Beispiel für eine „Immersion“, also das Hineinziehen des Betrachters in ein Medien-Kunstwerk, dienen.

Begegnen mit Tätern und Opfern

Ausgangspunkt ist jenes historische Foto vom 1.Mai 2011, das den amerikanischen Präsidenten Obama und seinen Stab im sogenannten Situation Room des Weißen Hauses zeigt, wie er die Tötung von Bin Ladin verfolgte. Der oberste Kriegsherr ist live dabei, auch wenn der Kriegsschauplatz Tausende von Kilometern entfernt ist – dieses Prinzip eines Situation Room haben Rimini Protokoll (Helgard Haug, Daniel Wetzel und Stefan Kaegi) vervielfacht. Im Frankfurt Lab, wo die bei der Ruhrtriennale uraufgeführte Produktion jetzt vom Mousonturm gezeigt wird, ist ein riesiges Filmset aufgebaut. Eine Konstruktion aus über- und nebeneinander gestapelten Containern, Türen, Leitern, Gängen, ein Raumlabyrinth, in das zehn signalgelbe Türen führen.

Zusammen mit dem Setdesigner Dominic Huber und dem Video-Performancekünstler Chris Kondek haben Rimini Protokoll ein minutiös durchgeplantes Szenario entworfen, das die Besucher zu Akteuren werden lässt. Mit Hilfe eines mit einem seltsam anachronistischen Holzgriff versehenen iPads, auf dem ein Film abläuft, der uns durch die verschiedenen Räume lotst, treffen wir – durch ihre Originaltöne in dem iPadfilm – auf Täter und Opfer, auf Kindersoldaten, Drogendealer, Bootsflüchtlinge, Bundestagsabgeordnete, Waffenproduzenten und Friedensaktivisten, die uns von ihrer Arbeit erzählen, von ihren Leiden und Hoffnungen.

Mit-Zuschauer werden zu Spielfiguren

Jeder Besucher erlebt beim Durchstreifen der Räume seine eigene Version der Geschichte, nach anderthalb Stunden hat er den Platz von zehn der 20 Akteure von „Situation Rooms“ eingenommen, die alle irgendwie mit den Kriegen, der Gewalt, den Waffen auf dieser Welt zu tun haben. Und die uns vermitteln, wie viel das alles uns selbst angeht. Wer etwa dem harmlos am Computer daddelnden Familienvater über die Schulter blickt, wird im nächsten Moment erfahren, dass dieser Mann namens Mike in einem kleinen Kabinett jene Drohne gesteuert hat, mit der Dutzende Frauen und Kinder in Pakistan getötet wurden, was der Opferanwalt Shazad Akbar zu beweisen versucht. In seiner Rolle setzen wir eine graue Perücke auf und betrachten Bilder, die ein zerstörtes Dorf und trauernde Hinterbliebene zeigen.

Wie im Film auf dem iPad öffnen auch im realen Gebäude der Inszenierung uns fremde Hände Türen, helfen uns aus dem kugelsicheren Mantel oder spielen am Konferenztisch mit dem Modell eines Leopard-II-Panzers. Denn die Mit-Zuschauer werden zu Spielfiguren im Film des jeweiligen Betrachters: Wenn wir in unserem Film als sudanesischer Friedensreporter eine Fahne hissen, sieht vom Dach des Containerbaus ein anderer Besucher in Islamabad die Nationalflagge wehen.

Gästebuch bezeugt Begeisterung

Wenige der Informationen, die „Situation Rooms“ liefert, sind per se besonders neu oder verblüffend. Sie in den jeweils passenden „Situationen“ zu präsentieren, mit den Stimmen von „Experten des Alltags“, erzeugt eine große Nähe und Dichte. Manches schockierende Bild oder auch die Banalität eines Waffenverkaufs prägt sich umso tiefer ein, als die Geschichten von Krieg und Gewalt, hilflosen Helfern und abwägenden Global Playern von den Zuschauern selbst mitgespielt werden.

Das Schwierige an diesem „Multiplayer-Videostück“ aber ist genau das: Es ist ein Video-Stück, das den Teilnehmern verwehrt, sich völlig in die jeweilige Situation zu versetzen. Denn sogar die Figuren in den iPad-Filmen selbst tragen wiederum stets ein iPad mit sich herum, auch wenn sie gerade davon reden, wie sie ein Haus stürmen oder einen kleinen Jungen untersuchen. Natürlich kann man das als Aufforderung verstehen, sich eben nicht mit den Protagonisten zu identifizieren und vielleicht sogar darüber nachzudenken, dass unser Alltag mittlerweile zu einem guten Teil nur noch gefiltert durch Smartphones und Internetinformationen stattfindet. Warum dann aber die Mühe, einen ganzen Parcours so authentisch wie möglich aufzubauen, samt kochender Suppe in der Wohnung der Asylbewerber? Das Gästebuch des Stücks bezeugt die Begeisterung und Ergriffenheit der Teilnehmer. Weit intensiver allerdings wäre die Erfahrung, kämen lediglich Stimmen und Spielanweisungen über Kopfhörer – oder würde das iPad konsequent als eine Art Spielanleitung genutzt. So lahmt „Situation Rooms“ gerade an der Stelle, an der es sich besonders fortschrittlich gibt.

 


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