Riminis Mimesis

Laudatio zum Mülheimer Theaterpreis

Von Bernd Stegemann

07.01.2007 / Theater heute 07/2007

Riminis Mimesis

Laudatio zum Mülheimer Theaterpreis – und eine Antwort auf die Frage, ob die Experten für Lebensspezialisten auch Stücke schreiben

Rimini Protokoll erfindet Theater neu, so könnte man beginnen, wenn man eingeladen ist, als Experte ein großes Lob auf die Preisträger der 32. Mülheimer Theatertage anzustimmen. Und in der Einladung von Experten und ihrer Einbindung in den Rimini- Kontext sind sie erfahren. So versucht der Experte, den Widerspruch aufzulösen, dass «Das Kapital, Erster Band» von Helgard Haug und Daniel Wetzel einen Dramatiker- und keinen Inszenierungspreis gewonnen hat. Mit vier Anmerkungen zur Bestimmung des «Kapital» versuche ich, dieser Aufgabe zu entsprechen.

I.
Brecht, ein Autor, der bekannt war für den gekonnten Diebstahl, machte die Unterscheidung von Schauspieler und Rolle zur Grundlegung seines epischen Theaters. Weil die Welt eine zu verändernde ist, muss sie als eine veränderbare dargestellt werden. Ein einfacher Satz mit einer weitreichenden Wirkung und vielen Zumutungen für den Zuschauer. Denn der wurde sich durch diese Vorführung der zahlreichen ästhetisch-ethischen Widersprüche zwischen dargestellter Welt und realer Welt, zwischen realer Welt und idealer Welt, zwischen Herren und Knechten und zwischen Spieler und Rolle, eines neuen, für ihn drastischen Widerspruchs bewusst: Er musste erkennen, da er ebenso doppelt im Theater saß wie das Abbild der Welt, dass diese ihm plötzlich widersprüchlich und veränderbar erschien.
Er saß dort einmal als Theaterbesucher, der echte Herr X mit
der echten Gattin Y, die eine Karte gekauft und ein Getränk getrunken haben. Zum anderen wurde ihm die Verwandlung in den Zuschauer, für deren wirkungsvollen imaginären Zauber er sich doch real herbewegt hatte, plötzlich zu einem Problem. Das Eintauchen in die Handlung, das Mitfiebern mit der Spannung und das Vergessen des eigenen Alltags, dieses alles wurde ihm nun als suspekt vorgeführt und konsequent verweigert. Er wurde sich seiner gedoppelten Existenz als Theaterbesucher und nach Ablenkung gierendem Zuschauer-Zeitgenossen bewusst. Irgendwann auf diesem langen Weg der Entzauberung musste Brecht eingesehen haben, dass das Theater der Zukunft erst in der Aufhebung dieser Unterschiede seine Erfüllung finden könne. Dann, wenn der Theaterbesucher selbst auf die Bühne gehen und von seinen Erfahrungen berichten würde, wäre jede Illusion überflüssig. Dann sitzen sich Darsteller und Zuschauer auf Augenhöhe gegenüber und erfahren etwas von der Unterschiedlichkeit der Welt.

II.
Die biografische Erzählung zur Quelle von Theater und Spiel zu machen, hat eine ebenso lange Tradition. Parallel zur brechtschen Unterscheidung fand ein hierzu konträrer Gedanke große Resonanz. Das Spiel, das aus der Technik des sense memory resultiert, bestimmte für lange Zeit im Theater – und im Kino bis in unsere Gegenwart – den ästhetischen Maßstab, was gutes Schauspiel, und d.h. in diesem Kontext: gelungene Darstellung von Menschen, sei. Mit der Erinnerung und der damit einhergehenden Emotion wird in der künstlichen Situation der Bühne oder des Filmsets eine andere, durch die Fiktion notwendige Realität möglich. Die Darstellung wirkt wie echt, da sie auf der Rekonstruktion ehemals realer Gefühle basierend reanimiert wird.
Dieses bedenkend, befragt Rimini seine Experten lange und genau, ohne diese Pandorabüchse theatralischer Gefühle zu öffnen. Da jeder ein Experte seines eigenen Lebens ist, hat der Zuschauer das Gefühl, eine Menge zu lernen. Hier stellt sich also Inspiration und geistige Anregung an die Stelle der Überwältigung durch die dramatische Fesselung der Aufmerksamkeit und das Vergessenmachen der «als ob»- Situation. Und damit die spannenden Geschichten nicht trotzdem die Aufmerksamkeit gänzlich bannen, durchsetzen Rimini sie wiederum mit den Mitteln Brechts. Sie unterbrechen die Spannungsbögen, sie machen die Sprecherpositionen kenntlich, so dass keine Chance für eine runde Rollengestaltung bleibt, und sie rahmen das Sprechen immer als zitierendes Sprechen. Die Experten erzählen zwar ihre eigene Geschichte, aber durch die oftmalige Wiederholung und die sprachlichen Eingriffe Riminis wird die eigene Rede doch zum fremden Text, der nun öffentlich gesprochen wird und zugleich die eigene Geschichte erzählt. Der etwas verwunderte Sprechduktus und ein scheues Registrieren der Wirkung formen so einen darstellerischen Ausdruck à la Rimini.

III.
Das Drama ist nach Peter Szondi und Gefolge seit mindestens 100 Jahren in seiner emphatischen Form tot. Es ist zersetzt und künstlich am Leben erhalten durch die Mittel der Episierung. D.h., die Erzählung einer Handlung tritt an die Stelle der Darstellung einer Handlung. Diese ist nicht mehr möglich, da die Welt sich nicht mehr in dialoghafte Handlungen auflösen und ihre Zusammenhänge nicht mehr als Interaktion zwischen Menschen darstellbar sind. Die Beschreibung dieser Krise des Dramas hat mindestens ebensolche drastischen Folgen gezeitigt wie die Antworten ihres berühmtesten Vertreters, B. Brecht. Die Mülheimer Theatertage sind in ihrer 32-jährigen Vergabe des vielleicht wichtigsten deutschsprachigen Dramatikerpreises immer wieder an erster Stelle beteiligt an der Diagnose des Stands dramatischer Kunst.
Mit dem «Kapital» hat nun ein Text den Preis gewonnen, der unauflöslich an seine Inszenierung gebunden scheint und dessen mögliche Zweitaufführung eine zentrale Frage an den Text formuliert. Soll die Mitschrift einer Aufführung des «Kapitals» als Grundlage einer Inszenierung dienen, oder soll der dahinterliegende Einfall, der zur Produktion dieser Texte führte, eine mögliche Inszenierung bestimmen? Im ersten Fall folgen wiederum viele Fragen nach. Spielt der Schauspieler dann den ehemals für den Text verantwortlichen Experten, oder behauptet er, dass nun er der Experte sei, so wie in der «Kapital»-Inszenierung von Rimini der Autor Mailänder, der eine Harksen-Biografie geschrieben hat, alle glauben macht, er selbst sei dieser Hochstapler? Der Theatertext «Das Kapital» wirft Fragen auf, die ins Herz einer jeden Inszenierung führen und nach alter Gewohnheit eine Qualität herausragender Theatertexte ausmacht: Sie stellen eine Überforderung des gegenwärtig existierenden Theaters dar.

IV.
Worum geht es nun in diesem Text? Er versammelt Erinnerungen an ein Gespenst, das zu verblüffenden Handlungen befähigte. Jeder Einzelne der Mitwirkenden hat seine Geschichte mit dem Kapital hinter sich. Der eine hat sein Leben der Lektüre und Edition des Buchs «Das Kapital» gewidmet. Andere haben ihr Leben der Erreichung eines möglichst großen Kapitals geopfert und sind als Spielsüchtiger oder Hochstapler tragisch daran gescheitert. Und schließlich die Opfer der Ideologie der Marxschen Kapitalkritik, die ihr folgend Schaden an sich selbst genommen haben, indem sie dem Kapitalismus Schaden zufügen wollten. Sie alle haben «Das Kapital» in seinen unterschiedlichen Daseinsformen als Methode des Warentauschs (Ideologie), als Fetisch (Geld) und als Buch-Mythos («Das Kapital», Band 1) für einige Zeit in ihrem Leben zur Maxime genommen. Man könnte sagen, sie haben einen Teil ihres Lebens gegen das Kapital getauscht. In der Zusammenstellung und Verwebung dieser Geschichten evoziert Rimini eine Aufführung, in der Experten des Kapitals uns Theaterbesucher an ihrem Wissen so Anteil nehmen lassen, dass Erkenntnis und Berührtsein sich befördern.

Die Methode Rimini, die verblüffende Kopplung eines Themas mit seiner Theatralisierungsmöglichkeit als Geschichten von Augenzeugen und Experten, erzeugt somit einen Text, der sich radikal mimetisch zur Wirklichkeit verhält. Im klassischen Drama ergibt der Rollentext plus Schauspieler die Figur, die handelnd uns zu interessieren versucht. Bei Rimini ergibt die Erzählung des eigenen Erlebens ein theatralisches Ready-made, das durch seinen Kontext, die Inszenierung einer Auswahl von Experten und die Formung ihrer Geschichten, eine mimetische Darstellung ergibt. Die ihre Geschichte erzählenden Menschen sind wirklich anwesend und zugleich durch die Auswahl ihrer Texte, durch die Probenarbeit und ihr Bühnenpräsenz Darsteller ihres eigenen Lebens. Somit verwandelt Rimini, wie es der paradoxen Struktur der Mimesis eigen ist, Realität in Darstellung und gibt dem Dargestellten eine Realität. Für dieses Theater und den dadurch erzeugten und der Aufführung zugrunde liegenden Text beglückwünsche ich Helgard Haug und Daniel Wetzel entschieden.

von Bernd Stegemann