Professioneller Dilettantismus

Von Caroline Marié

07.09.2010 / artefakt

 

„Aber es wird auch vegetarisches Theater geben, in dem nur Pflanzen auf der Bühne stehen“, so entwirft das Künstler-Kollektiv Rimini Protokoll in der Ausstellung „Drei Fliegen mit einer Klappe“ die Zukunft des Theaters. Im Gespräch mit artefakt erklären die drei Theaterwissenschaftler, warum man mit Call-Centermitarbeitern nicht nur über Kreditkartenabrechnung reden muss, was Kunstkritik der Theaterkritik voraus hat und was es mit der Geschwindigkeit im Wohnstift auf sich hat.

Der Dilettant ist „ein Liebhaber der Künste, der nicht allein betrachten und genießen, sondern auch an ihrer Ausübung Theil nehmen will“, notierte Goethe 1799. Etwas mehr als 200 Jahre später dreht das deutsch-schweizer Kollektiv Rimini Protokoll den Spieß um: In ihren Projekten beschäftigen sich die professionellen Theatermacher in dilettierender Manier mit gesellschaftlichen Themen und Fragen abseits des Künstlertums. Um Professionalität und Dilettantismus dennoch zusammenzubringen greifen sie auf Laiendarsteller zurück, die am Theater dilettieren, in ihrer eigenen Profession aber brillieren. Durch die Zusammenarbeit von Experten und Laien, „Experten des Alltags“ wie Rimini Protokoll sie nennen, entwickeln sich ihre Stücke zwischen Realität und Fiktion sowie im Spannungsfeld von Theater und Kunst.

 

Zu ihrem zehnjährigen Jubiläum findet im Heidelberger Kunstverein nun die erste Einzelausstellung statt. Unter dem Titel „Drei Fliegen mit einer Klappe. Eine Ausstellung“ bieten die drei Theaterwissenschaftler Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel, die seit 2002 unter dem Label Rimini Protokoll arbeiten, einen Überblick ihrer medienübergreifenden Projekte. Gezeigt werden Dokumentationen wichtiger Stationen der letzten Jahre wie „Call Cutta in a Box“ oder „Hauptversammlung“. Als Rahmen dieses Stückes wurde die Hauptversammlung der Daimler AG im April 2009 in Berlin gewählt. Haug, Kaegi und Wetzel hatten im Vorfeld Aktien gekauft und weitere Aktionäre gebeten ihre Einladungen abzugeben, um möglichst viele Zuschauer an dieser besonderen Aufführung teilhaben zu lassen. In „100 Prozent Wien“ und „100 Prozent Berlin“ sollten die Städte durch ein lebendes Gesamtbild ihrer Bewohner vertreten werden. So suchten Rimini Protokoll die Mitwirkenden durch eine Kettenreaktion aus: Nur eine Person wurde gecastet und schlug anschließend Freunde und Bekannte zur Teilnahme vor. Am Ende der Schneeballaktion standen jeweils 100 Menschen mit verschiedenen Lebensentwürfen und –läufen auf der Bühne und verliehen ihrer Stadt ein individuelles Gesicht. Dieser Rückblick wird im Heidelberger Kunstverein um einen Ausblick ergänzt: 80 Heidelberger haben im Vorfeld der Ausstellung vorformulierte Zukunftsvisionen in ihrer individuellen Handschrift festgehalten. Diese Zettel werden nun vergrößert und auf Goldgrund eine Wand der Ausstellungshalle ausfüllen und sollen zusammen mit ausgemusterten Sesseln des Heidelberger Theaters zu einem neuen Blick auf die Zukunft der Institution Theater anregen.

 

Seht Ihr Euch als Künstler, Dramaturgen oder Autoren?

Daniel Wetzel: Das Theater ist das Plateau, auf dem wir am meisten arbeiten und auch am schnellsten agieren können. Projektspezifisch nennen wir uns Regisseure oder Autoren. Aber bei der Arbeit komponieren wir auch, machen Videos, entwerfen Räume; je nach Projekt entscheidet sich, wer welche Schwerpunkte setzt. Wenn es ums Radio geht, schneiden und komponieren wir oft erstmal alle parallel.

 

Helgard Haug: Wenn ich gefragt werde, was ich beruflich mache, sage ich, ich bin Regisseurin. Aber ich bin genauso Autorin, Videokünstlerin usw. Theater und Kunst decken sehr viele Bereiche ab, deshalb ist mir das Label egal. Ich könnte mich auch als Künstlerin bezeichnen, aber darin liegt oft etwas Elitäres, fast Rechtfertigendes, das unnötig ist und ablenkt.

 

Ihr legt Euch nicht darauf fest ausschließlich Künstler zu sein, arbeitet aber im Spannungsfeld zwischen Kunst und Theater. Bringt das Freiheiten mit sich?

Wetzel: Freiheiten will sich jeder erarbeiten, egal mit welchen Mitteln er arbeitet. Aber professioneller Dilettantismus ist ein Schlagwort, mit dem ich dieses Spannungsfeld beschreiben würde. Dabei steht nicht das Dilettieren im Vordergrund, sondern eine gewisse Respektlosigkeit gegenüber den großen Meistern des jeweiligen Faches. Künstlerische Praktiken sind dazu da, sie regelmäßig miteinander in Kollision zu bringen. Wir wollen nicht innerhalb einer Disziplin verharren. Wir versuchen auch, Menschen aus ihrem professionellen und biografischen Milieu herauszuholen und sie davon zu überzeugen, dass sie im Kontext des jeweils einen Projekts gute Darsteller ihrer selbst sind und zwar nicht trotz, sondern gerade wegen dem, was sie sonst tun. Sie stehen plötzlich ziemlich selbstsicher auf der Bühne eines Staatstheaters.

 

Das Theater, das Radio oder der Film sind für uns keine Orte der Spezialisierung, sondern Schnittstellen für solche Umstülpungen. Das hat aber überhaupt nichts mit dem oft auf Peinlichkeit ausgelegten Echtheits-Getue in den Reality-Formaten zu tun, die es im Fernsehen gibt. Wir arbeiten an der Souveränität der Leute; daran, dass man ihnen beim öffentlichen, kreativen und mutigen Umgang mit sich selbst, bei der Selbst-Mitteilung, gerne und oft erstaunt zuschaut.

Der zehnte Schwarzfahrer

 

Hat diese Vorgehensweise auch negative Seiten?

Wetzel: Unser professioneller Dilettantismus hat die Kehrseite, dass wir uns permanent auf Feldern tummeln, mit Themen beschäftigen, denen andere ihr gesamtes Leben widmen. Ich habe oft das Gefühl, dass ich gerade viel enorm Interessantes über die Strafprozessordnung, über Reglements bei österreichischen Bestattungen oder den Ablauf einer Herztransplantation usw. weiß. Und das Meiste bleibt auf der Strecke und ein paar Wochen später ist das natürlich alles wieder verschwommen. Aber das ist nichts Negatives, das gibt es ja immer, das Weggelassene, auch in einem „ganzen Schiller“ wie ihn der ehemalige Bundespräsident Köhler vom Theater gefordert hat.

 

Wir sind im Umgang mit künstlerischen Formen Profis. Aber vor allem dilettieren wir mit Freuden auf anderen Feldern, um dem Theater etwas abzugewinnen. Das erlaubt uns dumme Fragen zu stellen oder Fragen zu haben, auf die die jeweiligen Profis selbst nicht kommen.

Wir haben unter dem Titel „Ortstermin“ mehrere Tage hintereinander Strafprozesse in Berlin besucht − mit Publikum im Schlepptau ab morgens halb Neun, drei Gruppen von Saal zu Saal, je nach dem, wo es interessant war. Wenn du mit 30 Mann in den Saal 202 kommst, wo gerade der zehnte Schwarzfahrer vor Gericht steht und neben dem Gerichtspersonal und dem Staatsanwalt die Freundin auf einer Bank zuhört, fragt der Richter schon, was man will. Wir sagten: „Wir kommen vom Theater und interessieren uns für Ihre Arbeit.“ Es gab Zuschauer, die enorme Bedenken hatten, ob unsere Anwesenheit sich auf die Entscheidung der Richter auswirken könnte. Schwupps war man mit vielen Zwiespältigkeiten und Fragen mitten im Gerechtigkeitsgeschehen und steckte dreimal tiefer drin als ein Publikum während einer Theatervorführung.

 

Greift Ihr deshalb bei Eurer Arbeit auf Laiendarsteller zurück, die Ihr oft nach ihrer Berufsgruppe oder anderen gesellschaftlichen Parametern auswählt?

Wetzel: Wir sehen sie ja überhaupt nicht als Laiendarsteller. Laie ist man, wenn man es nicht richtig weiß, und Amateur, wenn man etwas ohne Ausbildung kann. Aber Leute, die das Theater lieben, dürfen bei uns selten mitspielen, denn da hat die Verbiegung schon begonnen; sie werden das Theater nicht mehr los, auch wenn sie nur auf die Bühne kommen sollen.

 

Wir sind an den Schnitt und Bruchstellen im eigenen Denken interessiert; an den Stellen, an denen beispielsweise die Rolle des Strafrichters aufhört und etwas anfängt, das vielleicht dem beruflichen Bild entgegensteht oder ihm einen neuen Aspekt hinzufügt. Es muss auch nicht immer der Beruf im Vordergrund stehen: Man kann auch Profi dafür sein, ein hohes Alter erreicht zu haben, oder weil man zwölf ist und schießfreudiger Experte für ein Videospiel.

 

Helden des Alltags

Wie gewinnt Ihr die Darsteller für Eure Projekte?

Haug: Jeder hat einen gewissen Respekt vor einer Theaterbühne. Es ist schwieriger dort zu stehen als vor einer schnell aufgebauten Kamera. Während des Arbeitsprozesses, der am Tisch mit vielen Gesprächen startet, können wir den Darstellern die Angst vor dem Schritt auf die Bühne nehmen. Viele genießen es nach einer Zeit des Probens und der Aufmerksamkeit, die sie erfahren. Sie fragen sich jedoch oft, wen das alles interessieren soll, da sie ja ‚nur‘ ihr Leben spielen. Das liegt daran, dass die Bühne traditionell etwas anderes umrahmt, nämlich Königsgeschichten und nicht die kleinen Geschichten des Alltags.

 

 

Viele Eurer Stücke sind aufwendige Projekte, die an den jeweiligen Aufführungsort angepasst werden oder gar verschiedene Kontinente verbinden. Was reizt Euch daran?

Wetzel: Unsere Themen und Konzepte entstehen durch das Beobachten dessen, was um uns herum passiert und weniger in Auseinandersetzung mit Dramentexten. Es geht immer darum, dass diese suchende, beobachtende Haltung zur Welt und ihrer Bevölkerung im Kleinen auch zu neuen Formen und Themen für unsere Arbeiten führen kann. Dazu wäre die Arbeit in immer wieder der gleichen Stadt strategisch nicht so günstig.

 

Dabei gibt es zwei Linien: Entweder das Theater zu bespielen oder das Theater außerhalb des Theatergebäudes vorzufinden und zu verstärken; also zum einen Leute auf die Bühne einzuladen, die dort noch nie waren. Zum anderen gibt es Repräsentation, Rollenspiele oder das Tragen einer Maske nicht nur auf der Bühne. Deshalb gibt es das Theater noch, und deshalb kann man es überall sonst aufschlagen, weil die Zuschauer es als Wahrnehmungsmuster mitbringen, auch wenn man im Mantel einer Theateraufführung einen Gerichtsprozess oder eine Hauptversammlung besucht oder ein Telefongespräch führt.

Für „Call Cutta“ haben wir mit Call-Centern in Indien zusammengearbeitet. Uns ging es um ein Theater der Stimme: Dem Servicepersonal hört man zu und imaginiert zur Stimme einen Körper, Service-Leitungen sind Servicebühnen, die zu jeder Sekunde des Tages abertausendfach bespielt werden. Es soll über andere Themen gesprochen werden und nicht immer nur über Kreditkartenabrechnungen. In „Call Cutta“ hat jeder einzelne Zuschauer einen 90-minütigen Gang durch Berlin gemacht, geführt von einer netten Person 10.000 Meilen weit weg. Sie wollte gleichzeitig auch ein Gespräch führen, einem versteckte Sachen entlang des Wegs zeigen, hat etwas vorgesungen und einen dazu gebracht, auch zu singen, oder zu rufen, mitten auf der Straße. Man erfuhr etwas von den Leuten, eingebettet in einen Rahmen aus Anweisungen, Texten, Musik und der Route.

Ein tiefer Graben

 

Neben Neuinszenierungen dramatischer Stücke wie Schillers „Wallenstein“, habt Ihr auch „Karl Marx: Das Kapital, Erster Band“ aufgeführt und in „Deutschland 2“ eine gesamte Sitzung des Deutschen Bundestages von Bonner Wählern simultan mitsprechen lassen. Habt Ihr einen politischen Anspruch?

Stefan Kaegi: Was viele Leute als politisch in unseren Aufführungen wahrnehmen, ist die grundsätzliche Strategie, dass dort, wo früher Könige oder große Helden auftraten nun jemand steht, der ihr Nachbar sein könnte. Politik ist auch Theater, was für mich keine Abwertung ist, sondern ein Anschauungskriterium oder ein Schlüssel zu ihrem Verständnis. Wenn ein Volksvertreter jemand anderen darstellen bzw. vertreten soll, ist das ein Rollenspiel und wirft theatertypische Fragen auf: Wie spielt er die Wählerschaft oder wie spielt er für sie? In diesem Sinne haben wir uns immer wieder für Personen wie Redenschreiber, Politiker oder für deren Werbestrategien interessiert.

 

 

Viele Eurer Arbeiten finden im öffentlichen Raum statt. Wie ist Euer Verhältnis zur Institution Theater?

Haug: Als ich vor 15 Jahren nach Berlin gezogen bin, habe ich mich in erster Linie unter die Bildenden Kunst Szene gemischt. Ich hatte immer das Gefühl, dass hier das Theater als anrüchig empfunden wurde. Während das Theater gerade die Bildende Kunst entdeckte und versuchte Bildende Künstler nicht nur als Bühnenbildner, sondern auch als Regisseure zu gewinnen, war der Weg vom Theater zur Kunst viel steiniger.

 

Ich selbst habe das Theater auch immer skeptisch betrachtet. Für uns war es damals indiskutabel innerhalb der Institution tätig zu sein. Wir hatten nicht das Gefühl, dass man in diesem Rahmen frei und inspiriert arbeiten kann. Das Theater war eine Bildungsverwaltungseinrichtung geworden, die sehr eitel und mit sich selbst beschäftigt war. Mittlerweile hat das institutionelle Theater bemerkt, dass es durch diese Eigenschaften seine Zuschauer verliert und der Graben zwischen ihm und dem Publikum immer tiefer wird. Es muss seine Existenz hinterfragen und sich überlegen, für wen es letztendlich arbeitet oder wie Themen anders gefasst werden können. Was will man im Kommunikationsraum diskutiert, gesagt und gehört wissen? Das Theater sucht nach einer neuen Form, auch nach einer neuen Öffentlichkeit, außerhalb seiner Mauern. Nach wie vor agieren wir aber als freischaffende Regisseure oder freie Gruppe und kooperieren mit dem institutionellen Theater.

 

Daumen hoch, Daumen runter

Wie habt Ihr Eure Arbeitsweise entwickelt?

Kaegi: Zu Beginn hatten wir drei durch Zufall denselben Einfall. Wir arbeiteten damals im Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt am Main, einem Theater, das junge Positionen zeigt. Wir wunderten uns, warum der angrenzende Wohnstift und die dort lebenden älteren Menschen von jungen Betrachtungsweisen ausgeschlossen sein sollten. Deshalb haben wir mit Damen zwischen 75 und 85 Jahren über die Formel 1 recherchiert, also einen Bereich, in dem Beschleunigung mindestens ebenso gefährlich ist wie im Wohnstift. Im Anschluss daran haben wir wieder und wieder mit Menschen gearbeitet, die in ihrem Leben viel erlebt haben und haben ausgelotet, inwieweit der Rückblick auf ihr Leben zu einer interessanten Erzählung werden könnte. Die Palette reichte von Call-Centermitarbeitern, über LKW-Fahrer hin zu Marktspezialisten. Wir haben uns gezielt zu einer Kunstform hinbewegt, bei der Zeit und Dauer und ein konzeptueller Ansatz eine Rolle spielen.

 

Eine weitere Ebene unserer Arbeit ist die Integration der Bildenden Kunst. In den letzten zehn Jahren erlebten wir, dass sich Kunsträume für uns öffnen. Vorher war dramaturgisch Gedachtes bei Leuten aus dem Kunstbetrieb eher verpönt, da dem Theater – zu Recht – ein Mangel an Authentizität nachgesagt wurde. Nun wandelt sich dies. Viele Künstler – besonders in der Videokunst – beschäftigen sich aktuell mit Fragen wie Rollenspiel, Schnitt oder Timing oder integrieren Schauspieler in ihre Arbeit.

Die Bildenden Künstler und die Akteure des Kunstbetriebs haben ihre Meinung geändert?

Kaegi: Unsere Konzepte stehen auch für andere Räume; bei „Call Cutta in a Box“ haben wir beispielsweise einen Cube errichtet, den wir auch schon, als eine One-to-One-Performance in Kunstmuseen betrieben haben. Das ist in einem Kunstraum gut realisierbar und ist auch in eine Tradition zu bringen mit den Arbeiten von Tino Sehgal oder der New Yorker Performance „The Artist Is Present“ von Marina Abramovic, die ihre Präsenz als Kunstereignis verkauft.

Im Kunstbetrieb wird unsere Arbeit differenzierter wahrgenommen: Im Gegensatz zur Kunstkritik ist die Theaterkritik darauf trainiert zu sagen: Daumen hoch, Daumen runter. Das Publikum wird davor gewarnt oder dazu gebracht, in ein Stück zu gehen. Die Qualität der Kunstkritik ist, dass sie viel weiter gefasst ist und versucht zu verstehen, was auf der Bühne oder, im Falle des Cubes, im Aufführungsort geschieht.

 

Wo möchtet Ihr in Zukunft arbeiten – im Museum oder im Theater?

Haug: Wenn die Grenzen so durchlässig bleiben, halte ich beides für möglich. Wir arbeiten mit vielen verschiedenen Medien und ich finde es spannend, sich nicht auf eine Institution festzulegen.

 


Projekte

Drei Fliegen mit einer Klappe. Eine Ausstellung