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Zwischen Chinapfanne und Karriere

Eine Geographie vietnamesischer Migration in Berlin

Von Sascha Wölck

»Es kommen Leute her, um Buddha zu fragen, wie sie ihre Kinder erziehen sollen oder um ihn um konkrete Hilfe zu bitten. Solche Leute haben keine Ahnung, was Buddhismus ist" erklärt Tan. Sie selbst ist gläubige Buddhistin, 30 Jahre alt, transsexuell, ihre Arme und Oberkörper sind mit Tattoo-Imitaten verziert. Tan hat mich überredet mit hier her zu kommen. Wir stehen auf dem Grundstück der vietnamesischen, buddhistischen Gemeinde in Berlin-Spandau und betrachten die Feier zur Einweihung des Pagodenbaus im Garten der Gemeinde, die auf den Tag zum Gedenken der Eltern gelegt wurde.

Mehr als eine Million Euro wurden in der hiesigen vietnamesischen Community an Spendengeldern gesammelt, um 2009 den Bau der Linh Thứu Pagode in Spandau mit dazugehörigem buddhistischen Gemeindehaus und Garten zu ermöglichen. Die Architektur der Pagode scheint eine moderne Beton-Interpretation der berühmten, 1049 von Kaiser Ly Thai To erbauten Chùa Một Cột (Ein-Stamm-Pagode) in Hanoi zu sein. Wie die Ein-Stamm-Pagode steht sie auf einem schmalen Sockel inmitten eines künstlich angelegten Sees. Die Anlage steht allen offen und sonntags gibt es für Besucher kostenloses vegetarisches Essen. Im Unterschied zu der Hanoier Pagode ist dieser Ort vornehmlich buddhistischer Praxis gewidmet und nicht Anziehungspunkt eines globalen Massentourismus. Denn während die Pagode im Zentrum der Hauptstadt Vietnams in unmittelbarer Nähe zu sozialistischen Sakralbauten wie dem bescheidenen Wohnhaus Ho Chi Minhs und seinem weniger bescheidenen Mausoleum steht, befindet sich das Spandauer Zitat am westlichen Rand der Stadt und ihre Nachbarschaft setzt sich vor allem aus den blauen und gelben Verkaufshallen der freundlichen Ikone des globalen Kapitalismus, dem IKEA Markt zusammen.

Der abgelegenen Lage zum Trotz sind Hunderte Gäste zur Eröffnung der Pagode gekommen und schieben sich dicht gedrängt durch Gebäude und Garten. Thu, ein junger Mann in einem langen grau-blauen Gewand, verteilt Blumen, die sich die Gäste mit einer Nadel an ihre Oberbekleidung pinnen. Wenn die Eltern verstorben sind, trägt man eine weiße Blume, andernfalls eine rote. Auf meine Frage, was zu tun ist, wenn noch nicht beide tot seien, antwortet er, dass ich nach der Mutter entscheiden soll. Sie hätte schließlich die größere Mühe mit mir gehabt.

In den Räumen des oberen Stockwerks thronen im Lotus-Sitz drei mächtige, goldene Buddha-Statuen. Ihnen gegenüber ist eine Tafel zum Gedenken an Verstorbene der Gemeinde angebracht, davor stapeln sich Opfergaben, vor allem Schnaps und Südfrüchte. In einem wenige Quadratmeter großen Shop kann man buddhistische Devotionalien erwerben. Die Räume sind bisweilen mit einem so beißenden Geruch von Räucherstäbchen erfüllt, dass auf die meisten Besucher der Garten die dauerhaftere Anziehung ausübt. Auf dem Rasen sind Bierbänke aufgestellt, die einen Blick auf eine kleine Bühne zulassen. Dort interpretiert zuerst ein Teenager zur Freude seiner Eltern Schlager auf einem Keyboard und anschließend wird das Programm von einer Gruppe Mädchen fortgesetzt, die traditionelle Tänze zeigt und mit Reishüten Formen in die Luft malt.

Eine zweite Hanoier Sehenswürdigkeit, die ein Äquivalent in Berlin findet, ist der Đồng Xuân-Großmarkt. In Hanoi liegt er am nördlichen Ende der belebten Altstadt, in Berlin in der Herzbergstraße in Lichtenberg - einer der Stadtteile Ostberlins, in denen sich auch in den nächsten Jahren vermutlich niemand Sorgen um Gentrifizierung machen wird.

Die Gemeinsamkeiten beider Märkte sind nicht gerade augenscheinlich. Zwängt man sich in Hanoi durch ein Netz enger Gassen innerhalb und außerhalb eines gediegenen Kolonialbaus, vorbei an Massen von Besuchern sowie lebender und toter Waren, besteht der Berliner Markt aus parallel aufgestellten Großmarkthallen, durch deren Mitte jeweils ein Gang führt. Das größte Angebot machen Lebensmittel und Bekleidungsgeschäfte, Restaurants, Friseure, Nagelstudios und ihre Zulieferer aus. Bekannt ist der Markt für die hier erhältlichen Phở-Reisband-Nudelsuppen, die als die besten gelten, die man in Berlin käuflich erwerben  kann. Unter den Anbietern des Marktes bilden Vietnamesen die Mehrheit, während sich eine Minderheit aus vereinzelten pakistanischen und türkischen Geschäften rekrutiert. Die Kundschaft setzt sich vor allem aus vietnamesischen Einzelhändlern zusammen, sowie aus der eher sozial schwachen, meist weißen deutschen Nachbarschaft umliegender Plattenbauten.

Im Đồng Xuân-Markt  unterhalte ich mich mit Binh, der in Treptow als Einzelhändler Obst und Gemüse verkauft. Er erklärt mir, warum es so viele vietnamesische Blumenläden in Berlin gibt: »Es gibt nur zwei Blumen-Großmärkte in Berlin, einer davon wird von Vietnamesen betrieben. Da Vietnamesen länger und für weniger Geld arbeiten, gibt es bei ihnen gute Qualität für weniger Geld, deshalb der Erfolg". Binh ist 1988 als Vertragsarbeiter in die DDR eingereist. Mit der Wende kam die Schließung seines Betriebes und er hat sich aus Mangel an Alternativen als Einzelhändler selbstständig gemacht. In seinem Geschäft arbeitet er sechs Tage die Woche, von morgens um vier bis abends um neun Uhr. Hinter dem Tresen lernt er nebenbei deutsche Grammatik. Letzten Herbst reichten Zeit und Geld das erste Mal für einen Familienausflug in seine alte Heimatstadt Hanoi. Doch so sehr er sich über ein Wiedersehen mit seinen Verwandten gefreut hat, so wenig kann er sich vorstellen, dauerhaft dorthin zurückgehen: »Es ist zu heiß, die Luft zu schlecht, und vor allem ist es viel zu laut".

Die Distanz zwischen der Linh Thứu-Pagode und dem Đồng Xuân-Markt misst über 30 Kilometer. Man könnte sie als Enden einer sich über das Berliner Stadtgebiet erstreckenden vietnamesischen Infrastruktur verstehen, die neben der chic gewordenen vietnamese Cuisine, steuerfreien Zigaretten, Blumen und Nagelstudios auch sonst Einiges zu bieten hat: Man kann vietnamesisch-sprachigen Fahrunterricht nehmen, Mitglied eines vietnamesischen Studentenverbands werden oder in einem vietnamesischen Hotel übernachten. Aber auch wenn der Đồng Xuân-Markt und die LinhThứu-Pagode auf in Hanoi Bestehendes referieren, ginge der Versuch, sich die vietnamesische Community als ein »Little Hanoi" vorzustellen, reichlich schief. Das, was Außenstehenden zunächst wie eine relativ homogene Gemeinschaft scheinen mag, ist von Differenzen gezeichnet, die sich nicht zuletzt auf die  Herkunft und den Weg ihrer Migration nach Ost- oder Westdeutschland zurückführen lassen.

In der alten Bundesrepublik und Westberlin war vietnamesische Einwanderung vor allem durch die so genannten Boatpeople - bzw. Kontingentflüchtlinge - gekennzeichnet. Ihre Fluchtbewegung wurde bereits kurz vor Ende des 30 Jahre langen Krieges durch den Vormarsch der aus dem Norden vorrückenden kommunistischen Truppen im Frühjahr 1975 ausgelöst und steigerte sich mit dem Fall Saigons, der Hauptstadt des Südens. Unter den Flüchtlingen herrschte Angst vor Vergeltung an den Angehörigen des südvietnamesischen Militärs und der Administration des südvietnamesischen Regimes. Des Weiteren war Vietnam von einer Versorgungskrise geplagt, die nicht zuletzt mit der Zerstörung der Infrastrukturen durch den Krieg zusammenhing; außerdem versiegten im Süden die Finanzströme aus den USA.

Die Flucht führte meistens über das Meer und war ein unmittelbares Risiko für das Leben der Flüchtlinge. Ihre Boote waren  in der Regel nicht hochseetauglich, kenterten während des Monsuns im Südchinesischem Meer und wurden von Piraten verfolgt. Über 1,5 Millionen Menschen versuchten die Flucht; Hunderttausende verloren dabei ihr Leben. An ihrer Bergung aus dem Meer waren auch deutsche Schiffe beteiligt, das berühmteste von ihnen ist die Cap Anamur.Insgesamt nahm die Bundesrepublik ca. 40.000 Flüchtlinge auf. Sie erhielten Asyl und wurden, um Ballungen und Subkultur zu vermeiden, möglichst gleichmäßig über die Bundesrepublik verteilt. Ein Konzept, dass scheinbar aufging: Insbesondere die Geschichte ihrer zweiten Generation gilt als Musterbeispiel erfolgreicher Migration und Integration in der Bundesrepublik. Einigen gelang bereits der Aufstieg bis in die Spitzen der deutschen Politik, wie etwa Philipp Rösler, der heute das Amt des Bundesministers für Gesundheit bekleidet.

Die zweite quantitativ bedeutende, vietnamesische Migrationsbewegung war die der Vertragsarbeiter in der DDR. Bei ihnen handelte es sich mehrheitlich um Vietnamesen aus dem Norden des Landes. Das umfassendste Regierungsabkommen zwischen der DDR und der Sozialistischen Republik Vietnam, welches die Entsendung vietnamesischer Arbeiter in die DDR regulierte, ist im April 1980 unterzeichnet worden. Da die Auswahlkriterien großzügig gefasst waren, stieg die Zahl der in der DDR arbeitenden Vietnamesen schnell auf über 60.000, die überwiegend in der Textil-, Bau- und Metallindustrie eingesetzt wurden. Während im Westen für die Boatpeople ein dauerhafter Aufenthalt vorgesehen war, wurde den Vertragsarbeitern lediglich ein begrenztes Zeitfenster geöffnet. Die genehmigte Aufenthaltsdauer betrug zunächst vier Jahre und konnte später, abhängig von der Qualifikation, auf sieben Jahre ausgedehnt werden. Familiennachzug blieb jedoch grundsätzlich ausgeschlossen und unerwünscht.

 Mit dem Fall der Mauer geriet die überwiegende Mehrheit der Vertragsarbeiter in eine prekäre Lage. Sie gerieten in den Fokus rassistischer Übergriffe, deren Höhepunkte die Pogrome in Hoyerswerda und in Rostock waren. Durch die Schließung der DDR-Betriebe verloren sie ihre Lebensgrundlagen, während gleichzeitig die Regierung Kohl kein Interesse zeigte, sie als politisches und humanes Erbe der DDR anzunehmen. Ganz im Gegenteil unterzeichnete sie am 6. Januar 1995 mit der Regierung Vietnams eine gemeinsame Erklärung über den Ausbau und die Vertiefung der deutsch-vietnamesischen Beziehungen. Darin verpflichtete sich die Bundesrepublik zu einer Zahlung von 100 Millionen DM. Sie enthielt ein Rücknahmeübereinkommen, das die Abschiebung der Vietnamesen regelte, die sich in Deutschland ohne Arbeit, das hieß ohne gültigen Aufenthaltstitel, befanden.

Erst 1997 wurde den ehemaligen Vertragsarbeitern ein gesicherter Status ermöglicht. Sofern sie nicht straffällig aufgefallen waren und Arbeit nachweisen konnten, gestattete man ihnen den unbefristeten Aufenthalt.

Die unterschiedlichen Einwanderungshintergründe der Vertragsarbeiter und Boatpeople polarisierten bis in die jüngere Vergangenheit die Gruppen nicht zuletzt politisch. Gegenseitige Vorurteile zwischen Nord- und Südvietnamesen können auf eine Tradition zurückgreifen, die älter ist als die Migration nach Deutschland oder die Teilung Vietnams. Dabei lassen sich Identitäts-Zuschreibungen, die auf Nord-Süd-Unterscheidungen beruhen, anhand vieler Biographien leicht wiederlegen. Etwa der von Thuy Nonnemann: Sie ist Mitglied des Berliner Migrationsrats und der Härtefallkommission. Ihre Familie stammt ursprünglich aus dem Norden, ist aber nach der Teilung Vietnams 1954 in den kapitalistischen Süden gezogen, da ihr Vater das Diem-Regime für das kleinere Übel hielt. Doch als engagierter Verleger geriet er in ungeahnte Schwierigkeiten und landete für seine kritische Haltung gegenüber Diem im Gefängnis.

Thuy studierte Französische Literatur und arbeite als Stewardess. 1966 lernte sie den  den Chefarzt des Krankenhausschiffes Helgoland kennen und folgte ihm zwei Jahre später nach Berlin. Als knapp zehn Jahre später die ersten Boatpeople in die BRD kamen, engagierte sie sich zunächst ehrenamtlich für deren Anliegen. Die Vietnamesen, die heute bei ihr Hilfe suchen, kommen meist aus dem Norden Vietnams und sind von Abschiebung bedroht. Außerdem geht Nonnemann regelmäßig ins Gefängnis in Berlin-Tegel um die Männer zu besuchen, die Mitte der 1990er Jahre in Kapitalverbrechen rund um Zigarettenhandel, Mord und Schutzgelderpressung verwickelt waren, und nun zum Teil lebenslange Haftstrafen verbüßen.

Auch für die zweite Generation scheint die Unterscheidung in Nord und Süd von keiner schlagenden Relevanz. Die jungen Vietnamesen stehen unter einem gewaltigen Leistungsdruck ihrer Eltern, sehr gute Leistungen in der Schule zu erbringen und sind gleichzeitig Doppelbelastungen ausgesetzt, da sie in den Geschäften ihrer Eltern arbeiten und anschließend für die Schule büffeln. Die Realitäten ihrer Eltern im Kontrast zu den Realitäten ihres eigenen sozialen Umfeldes sind verantwortlich für die Konflikte, die sich häufig in der Familie anstauen.

Berlin ist heute nicht mehr in zwei vietnamesische Hälften in Ost und West gespalten. Vietnamesen aus Nord und Süd-Vietnamesen haben längst die ganze Stadt für sich erobert. Das ist nirgends sichtbarer als an den boomenden Lokalen, die immer weniger unter dem Label »China-Imbiss« laufen, sondern gehobene vietnamesische Küche in Berlins Szene-Bezirken in Ost und West anbieten. Sieht man von weiter bestehenden kriminellen Netzwerken ab, die sich vor allem mit dem Vertrieb steuerfreier Zigaretten oder Menschenschieberei verdingen, sind allgemein gesprochen, Vietnamesen Berlins »bequeme Migranten«. Sie pflegen zwar ihre eigene Kultur und bauen an eigenen Infrastrukturen, geraten aber selten in Konflikt mit der Mehrheitsgesellschaft und ihren Werten. Sie sind sozial und ökonomisch die wohl erfolgreichste Gruppe unter den Immigranten, belasten die Sozialsysteme kaum bis gar nicht. Klischees asiatischer Sanftheit und buddhistischer Friedfertigkeit lassen sie in der Wahrnehmung der biodeutschen Mehrheit wenig bedrohlich erscheinen. So wird hier selten das Szenario einer gefährlichen Parallelgesellschaft heraufbeschworen, auch wenn die enge Vernetzung der Community unter den Angehörigen der ersten Generation zu einem minimalen Austausch mit der Mehrheitsgesellschaft beiträgt. Das deutsch-vietnamesische Verhältnis oszilliert in Berlin irgendwo zwischen Dienstleistung und friedlicher Koexistenz in getrennten Sphären – gültige Papiere vorausgesetzt.

Sascha Wölck studierte Südostasienwissenschaften an der Humboldt Universität Berlin. Als freischaffender Mitarbeiter engagiert er sich in  Kulturprojekten zwischen Europa und Asien. Gegenwärtig bereitet er für das Berliner Theater Hebbel am Ufer ein Festival zum Thema vietnamesische Migration vor.

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